Neue Wege in der Prävention von chronischen Schmerzen
Chronische Schmerzen plagen Millionen Menschen. Doch viele Fälle liessen sich durch rechtzeitige Intervention vermeiden. Neue Präventionskonzepte setzen auf frühes Screening, interdisziplinäre Zusammenarbeit und psychosoziale Einflussfaktoren. Prof. Dr. Konrad Streitberger vom Inselspital Bern präsentierte am SGAIM Frühjahrskongress 2025 praxiserprobte Strategien.

«Wir sind eine schmerzgeplagte Welt», eröffnete Prof. Streitberger, Leitender Arzt der Universitätsklinik für Anästhesiologie und Schmerzmedizin am Inselspital Bern, seinen Vortrag.
Rückenschmerzen stellen weltweit die höchste Krankheitsbelastung für die Bevölkerung dar. In der Schweiz litten 2003 etwa 16 % der Bevölkerung an chronischen Schmerzen, das entspricht rund 1,2 Millionen Menschen – Tendenz steigend (1).
Schmerz wird längst nicht mehr nur als Symptom anderer Erkrankungen verstanden. Vielmehr hat sich die Sichtweise durch neue Erkenntnisse der Neurowissenschaft und die WHO-Klassifikation ICD-11 grundlegend geändert: Chronischer Schmerz ist heute als eigenständige Erkrankung anerkannt.
Früher galt Schmerz erst nach sechs Monaten als chronisch, während die aktuelle ICD-11-Klassifikation Schmerzen bereits nach drei Monaten als chronisch bewertet. Die neue Klassifikation berücksichtigt auch, dass Schmerz nicht nur ein körperliches Symptom, sondern ein biopsychosoziales Geschehen ist – ein Verständnis, das auf den Arbeiten von Engel (1977), Loeser (1982) und zuletzt Waddell (1984) basiert, so Prof. Streitberger (2,3). Alle drei Forscher trugen wesentlich zur Entwicklung des biopsychosozialen Modells bei, das biologische, psychologische und soziale Faktoren gleichwertig betrachtet.
Wie entsteht chronischer Schmerz?
Chronische Schmerzen können aus einer körperlichen Schädigung heraus entstehen, etwa nach Unfällen oder Operationen. Man bezeichnet sie dann als sekundär chronisch. Eine Verletzung oder Entzündung verursacht akuten Schmerz, der Stress oder Ängstlichkeit auslöst und den Schmerz verstärken kann. Richtige Kommunikation und Beruhigung helfen, Schmerzen in der Akutsituation zu reduzieren. Stress führt zu einer Imbalance der hemmenden Bahnen im zentralen Nervensystem, einer zentralen Sensibilisierung und letztlich zu chronischem Schmerz. Psyche und soziales Umfeld beeinflussen diese Sensibilisierung. Chronisch Schmerzkranke reagieren daher anders auf akute Schmerzen.
«Anders als akuter Schmerz, der für das Überleben notwendig ist, kann chronischer Schmerz eher als Erkrankung betrachtet werden, bei deren Behandlung auch psychologische Therapien und die soziale Situation miteinbezogen werden müssen», betonte der Experte (4).
Zwei Patienten, zwei Schicksale
Besonders eindrücklich illustrierte der Experte die Entstehung chronischer Schmerzen anhand von Patientengeschichten:
Eine Frau mit rheumatischer Vorerkrankung entwickelte nach mehreren Knieoperationen ein Komplexes Regionales Schmerzsyndrom (CRPS). Es folgten Reha, Rückenmarkstimulation und immer höhere Opioid-Dosen – was letztlich einen Entzug notwendig machte. Heute lebt sie ein selbstbestimmtes Leben und unterstützt andere Betroffene. «Sie hat ihre Schmerzen immer noch, aber sie hat ein lebenswertes Leben zurück», sagte Prof. Streitberger.
Eine junge Frau stürzte vom Pferd und erlitt eine Fraktur im Rücken. Sie wurde optimal mittels Spondylodese versorgt, hatte jedoch Monate später immer noch Schmerzen. Dennoch arbeitete sie sehr engagiert als Pflegefachfrau, verausgabte sich und rutschte in eine Depression. Sie stellte sich mit chronisch muskuloskelettalem posttraumatischem Rückenschmerz, chronischen Kopf- und Abdominalschmerzen, Schlafstörungen und psychosozialen Risikofaktoren vor. Die Patientin wurde akutstationär aufgenommen und mittels multimodaler Schmerztherapie in der psychosomatischen Klinik behandelt. Nach Wiedereingliederungsmassnahmen im Rahmen des Projektes «Prevention of Pain Chronification» (PrePaC) machte sie danach eine Umschulung zur Medizinischen Praxisassistentin und steht heute voll im Leben.
Prävention in drei Stufen
«No brain, no pain. Wer kein Gehirn hat, hat auch keine Schmerzen», so der Referent. Die moderne Schmerzprävention gliedert sich in drei Stufen: Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention. Die primäre Prävention umfasst Massnahmen, um das Entstehen von Schmerzen zu vermeiden – etwa durch Unfallprävention, Bewegung, gesunden Lebensstil und bewusste medizinische Entscheidungen. Dazu zählt auch, die Notwendigkeit operativer Eingriffe kritisch zu hinterfragen, insbesondere bei bestehenden psychosozialen Belastungen (5). Schon präoperative Schmerzen sind ein Risikofaktor für die spätere Chronifizierung.
«Ist die Operation wirklich notwendig?» – Ausser bei Not-Operationen müsse diese Frage interdisziplinär beantwortet werden – und zwar frühzeitig. «Patienten mit drei Jahren Rückenschmerzen bekommen manchmal ihre fünfte oder sechste Operation – und niemand beachtet, dass sie ein Gehirn haben», sagte der Referent. Auch wenn die Wirbelsäule gut repariert ist, kehrt der Schmerz oft wieder zurück und mit jeder Operation wird das Gehirn empfindlicher. Besonders schlimm ist es, wenn dabei die Schmerzursache nicht einmal in der Wirbelsäule liegt.
Die sekundäre Prävention zielt darauf ab, akute Schmerzen nicht chronisch werden zu lassen. Hier ist das Zeitfenster von besonderer Bedeutung: Innerhalb der ersten drei Monate nach Schmerzbeginn entscheidet sich häufig, ob der Schmerz abklingt – oder bleibt. Frühes Screening psychosozialer Risikofaktoren wie Angst, Depression, Isolation oder Arbeitsplatzkonflikte ist entscheidend. In der Hausarztpraxis, aber auch in Apotheken oder Kliniken kann ein einfaches Instrument zur Risikoeinschätzung bereits viel bewirken.
Schweizer Projekt soll Chronifizierung von Schmerzen vermeiden
Ein konkretes Beispiel ist das bereits erwähnte Schweizer Projekt Prevention of Pain Chronification (www.prepac.ch) am Inselspital Bern, das validierte Fragebögen zur frühzeitigen Erfassung psychosozialer Risikofaktoren nutzt und darauf basierend individuelle Gesundheitspläne erstellt.
PrePaC wird von der Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt und zielt darauf ab, Menschen mit akuten Schmerzen frühzeitig zu behandeln, um eine Chronifizierung zu vermeiden. Das Netzwerk soll es Betroffenen ermöglichen, Spezialisten wie Ärzte, Physiotherapeuten oder Psychologen rasch zu finden. Dabei wird die Soziale Arbeit eingebunden, da eine stabile soziale Basis ein wichtiger Grundpfeiler für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung ist.
Ausserdem bietet PrePaC Vorträge für Fachpersonal und Betroffene zu Themen wie dem biopsychosozialen Modell oder Schmerzkommunikation an.
Opioidentzug als Therapie
Die tertiäre Prävention richtet sich an Patienten mit bereits bestehendem chronischem Schmerz. Ziel ist es, funktionelle Beeinträchtigungen und soziale Isolation zu vermeiden, Lebensqualität zu erhalten und insbesondere die Nebenwirkungen übermässiger medikamentöser Behandlung wie etwa bei Hochdosis-Opioidtherapie zu minimieren (6).
Oft ist dann ein Opioidentzug die beste Therapie. Ein interdisziplinäres Vorgehen ist hier unerlässlich. «Chronische Schmerz-Patienten leisten oft einen täglichen Balanceakt zwischen Aktivität, Ruhe und sozialer Teilhabe. Das müssen wir anerkennen und begleiten», so ein Statement von Prof. Streitberger.
Das biopsychosoziale Modell berücksichtigt die drei Faktoren physische und mentale Gesundheit sowie soziale Integration. «Menschen aus stabilen sozialen Verhältnissen, die einen Beruf ausüben und damit zufrieden sind, haben ein geringeres Risiko, nach Operationen oder einem akuten Trauma chronische Schmerzen zu entwickeln», so Prof. Streitberger. Die Interaktion von Angst und Schmerz und die Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem wurden bereits in Mausversuchen nachgewiesen (7). Denn auch für Mäuse gilt: No brain, no pain!
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- Breivik H et al. Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impact on daily life, and treatment. Eur J Pain. 2006; 10(4): 287–333. doi: 10.1016/j.ejpain.2005.06.009.
- Gatchel RJ. Comorbidity of chronic pain and mental health disorders: the biopsychosocial perspective. Am Psychol. 2004; 59(8): 795–805. doi: 10.1037/0003-066X.59.8.795.
- Waddell G et al. Chronic low-back pain, psychologic distress, and illness behavior. Spine (Phila Pa 1976). 1984; 9(2): 209–13. doi: 10.1097/00007632-198403000-00013.
- Cohen SP et al. Chronic pain: an update on burden, best practices, and new advances. Lancet. 2023; 397(10289): 2082–2097. doi: 10.1016/S0140-6736(21)00393-7.
- Perioperative Schmerzmedizin Empfehlungen der Schweizer Gesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin, SSAPM
- Geber C et al. [Pain prevention in the primary care setting : Facts for resident physicians]. Schmerz. 2021; 35(1): 5–13. doi: 10.1007/s00482-020-00521-6.
- Kasanetz F et al. Chapter 18 – Anterior cingulate cortex, pain perception, and pathological neuronal plasticity during chronic pain. The Neurobiology, Physiology, and Psychology of Pain 2022: 193–202.
Neue Wege in der Prävention chronischer Schmerzen, SGAIM Frühjahrskongress 2025, 21. Mai 2025, Congress Center Basel