Paradigmenwechsel beim Phantomschmerz
Eine neue Studie fordert die lange vorherrschende Vorstellung heraus, dass sich nach einer Amputation die kortikale Karte umstrukturiert, die für die Erkennung von Körperteilen im Gehirn notwendig ist. Das stellt auch die bisher geltende Erklärung für den Phantomschmerz in Frage – und ebnet möglicherweise den Weg für neue Therapien.

Die Untersuchung in Nature Neuroscience (1) legt nahe, dass das Netzwerk des somatosensorischen Kortex auch noch Jahre nach einer Amputation erhalten bleibt.
Lange verfolgte die Neurowissenschaft die Theorie, dass sich die somatosensorische Hirnrinde (S1) nach Amputation etwa einer Hand neu organisiert, sodass angrenzende Körperrepräsentationen – zum Beispiel die Lippen – in die Handregion «einwandern». Dieses Modell beruhte vor allem auf Tierstudien und Querschnittserhebungen und diente auch lange als Erklärung für den Phantomschmerz.
Man ging davon aus, dass die Schmerzen, die 80 bis 90 Prozent der Personen mit amputierten Gliedmassen zumindest einmal im Leben quälen, durch das «fehlerhafte» Feuern der Neurone im reorganisierten Areal hervorgerufen würden.
Kortikale Karte blieb nach Amputation erhalten
Ein britisches Forscherteam untersuchte nun drei Personen, die sich aus unterschiedlichen Gründen einer Armamputation unterziehen mussten, im Rahmen einer Längsschnittstudie. Sie erhielten funktionelle MRT-Scans sowohl vor der Amputation als auch bis zu fünf Jahre danach. Zusätzlich wurden fMRTs von 16 Kontrollpersonen aufgenommen.
Die Teilnehmer sollten vor und nach der Operation mehrere gezielte Bewegungen ausführen: Erst mit dem echten Arm, dann mit dem «Phantomarm». Zusätzlich registrierten die Forscher Bewegungen der Lippen.
Überraschenderweise stellten sie fest, dass die Versuche, den Phantomarm zu bewegen, im Gehirn reale kortikale Aktivierungen hervorriefen. Teils waren diese begleitet von Muskelkontraktionen im Stumpf.
Darüber hinaus blieben Hand-, Finger- und Lippenkarten im somatosensorischen Kortex über die gesamte bis zu fünf Jahre dauernde Nachbeobachtungszeit nahezu unverändert. Klassifikatoren im MRT, die anhand prächirurgischer Daten trainiert wurden, konnten nach der Amputation zuverlässig unterschiedliche Bewegungen in Phantomfingern unterscheiden.
Bestätigt wurden diese Daten durch eine zusätzliche Querschnittsanalyse von drei Studien. Sie verglichen Menschen mit lang zurückliegender Amputation (im Schnitt 23,5 Jahre) mit Kontrollen. Auch hier zeigten sich ähnlich stabile kortikale Muster.
Phantomschmerzbehandlung neu gedacht
Damit geraten nicht nur die klassischen Modelle einer neuronalen Umorganisation – und damit auch die gängige Erklärung für den Phantomschmerz – ins Wanken. Auch die Vorstellung, dass kortikale Karten einem kompetitiven Prinzip folgen und «stärkere» Netzwerke input-arme Regionen wie ein fehlendes Körperteil übernehmen können, wird widerlegt.
«Wir gehen davon aus, dass im Gehirn Erwachsener die S1-Repräsentationen auch durch Top-Down-Einflüsse (z.B. efferente Signale) stabil erhalten bleiben können», schreiben die Autoren.
Phantomschmerzen würden demnach nicht durch eine «Verdrängung» der Handrepräsentation im Cortex entstehen. Stattdessen sind sie möglicherweise stärker mit zentralen Top-down-Mechanismen oder maladaptiver Erregbarkeit verbunden.
Damit könnte sich auch die Therapie des Phantomschmerzes neu ausrichten. Klassische Konzepte wie die Spiegeltherapie basieren auf der Annahme einer Reorganisation. Statt zu versuchen, diese rückgängig zu machen, könnten künftig neuromuskuläre, nervale oder spinale Interventionen in den Fokus rücken.
Eine weitere interessante Anwendung betrifft Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI). Dass die Repräsentation der Hand stabil bleibt, bietet eine verlässliche Basis, Phantomarm-Signale für die Steuerung einer Prothese zu nutzen.