Medical Tribune
23. Apr. 2025Wer ist betroffen?

Alkoholabhängigkeit: Gene und Umwelt halten sich die Waage

Alkoholabhängigkeit entsteht durch ein komplexes Zusammenspiel aus genetischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Prof. Dr. Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin gab am DGPPN-Kongress einen Überblick über die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Alkoholabhängigkeit.

Bei der Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit spielen Gene und soziale Faktoren wichtige Rollen.
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«Wenn wir die Entwicklung der Alkoholabhängigkeit untersuchen, reicht es nicht aus, ausschliesslich Menschen zu betrachten, die bereits abhängig sind», erläuterte Prof. Heinz.

Diese haben über Jahre hinweg Alkohol konsumiert, sodass eine retrospektive Analyse oft verzerrt ist. Es gibt zwei Hauptmethoden, um verlässlichere Erkenntnisse zu gewinnen:

  • Längsschnittstudien mit jungen Menschen: Diese verfolgen Probanden über einen langen Zeitraum und dokumentieren, wann und unter welchen Bedingungen sie beginnen, Nikotin, Alkohol oder Cannabis zu konsumieren.
  • Tierstudien: Diese liefern wertvolle Erkenntnisse über die neurobiologischen Effekte von Drogen, obwohl sich die Ergebnisse nicht immer eins zu eins auf den Menschen übertragen lassen.

Erkenntnisse aus Adoptionsstudien

Die Frage, ob eine besondere Persönlichkeitsdisposition oder Umweltbedingungen ausschlaggebend für eine Alkoholabhängigkeit sind, ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. In diesem Zusammenhang besonders aussagekräftig sind Adoptionsstudien. Sie zeigen, dass sowohl genetische als auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. «Sie halten sich in etwa die Waage», fasste der Referent die Datenlage zusammen. Kinder von alkoholabhängigen Eltern haben selbst dann ein erhöhtes Risiko, wenn sie in nichtalkoholbelastete Adoptivfamilien aufgenommen wurden. Umgekehrt ist das Risiko für Kinder, die in alkoholbelastete Adoptivfamilien aufgenommen wurden, ebenfalls erhöht.

Ein wichtiger genetischer Faktor ist die individuelle Empfindlichkeit gegenüber Alkohol. Studien belegen, dass Menschen, die grosse Mengen Alkohol vertragen, ein höheres Risiko für Alkoholmissbrauch haben. «Wer viel verträgt, trinkt oft auch viel», so Prof. Heinz. Hierzulande wird hohe Alkoholverträglichkeit oft als «Trinkfestigkeit» positiv wahrgenommen, obwohl dies langfristig problematisch sein kann, erinnerte der Experte.

Risikofaktoren sind zahlreich und sehr individuell, betonte der Referent. Internalisierende und externalisierende Störungen, Wirkungserwartung (Entspannung, sozial offeneres Verhalten etc.) oder Freunde mit sozialen Problemen tragen zum Alkoholkonsum bei, aber «alles in sehr geringem Ausmass». Die Korrelationen seien sehr klein.

Traumata in der Kindheit erhöhen das Risiko

Neben genetischen Faktoren spielen soziale Isolation und Stresserfahrungen eine wichtige Rolle. Traumatisierungen in der Kindheit erhöhen das Risiko für Alkoholabhängigkeit signifikant. Auch die Covid-19-Pandemie zeigte, dass Menschen mit bestehendem Risiko in Isolation vermehrt zu Alkohol griffen.

Arbeitslosigkeit beeinflusst den Alkoholkonsum ebenfalls. Während einige weniger trinken (da soziale Trinkanlässe entfallen), steigert sich der Konsum bei anderen, insbesondere wenn bereits vorher problematisches Trinkverhalten vorlag.

Impulsivität wird oft als Risikofaktor diskutiert, habe aber ganz unterschiedliche Aspekte und Ursachen, sagte Prof. Heinz. Studien zeigen, dass Menschen mit Suchterkrankungen häufiger zu riskantem, impulsiv anmutendem Verhalten neigen, insbesondere bei finanziellen Entscheidungen oder im Umgang mit Suchtmitteln. «Einer meiner Patienten versuchte innerhalb einer Stunde, in drei Geschäfte einzubrechen, weil er im Opiat-Entzug war und dringend Geld für Drogen benötigte. Diese akute Notlage führt oft zu enthemmtem Verhalten.»

Wer schlittert in die Alkoholabhängigkeit?

Nicht jeder, der viel trinkt, wird alkoholabhängig. Entscheidend sei auch, warum jemand nicht aufhört, obwohl bereits schädliche Folgen des Alkoholkonsums auftreten. Zur Diagnose der Abhängigkeit hat man die ehemals sechs Diagnosekriterien im ICD-10 zu drei Paaren gebündelt, von denen im ICD-11 zwei erfüllt sein müssen (innerhalb der Paare genügt ein erfülltes Kriterium):

  • Starkes Verlangen nach Alkohol (Craving), das zuletzt aber weniger stark gewichtet wurde, und Kontrollverlust über den Alkoholkonsum
  • Toleranzentwicklung oder körperliche Entzugssymptome
  • Substanzkonsum wird fortschreitend zur Priorität im Leben: Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Alkoholkonsums oder fortgesetzter Konsum trotz negativer Konsequenzen.

Antidepressiva lösen keine Abhängigkeit aus

Die Kombination von Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik ist zwar ein Kriterium für eine Abhängigkeitserkrankung, reicht aber allein nicht aus, um eine Abhängigkeitsdiagnose zu stellen. Prof. Heinz erklärte den Zusammenhang anhand von Absetzeffekten von Antidepressiva. Im Gegensatz zum Alkohol werden Antidepressiva in der Regel nicht exzessiv konsumiert. «Antidepressiva lösen kein starkes Verlangen aus und haben keine kurzfristig positive Wirkung. Diese Faktoren sind jedoch essenziell für eine Abhängigkeitsdiagnose», betonte der Experte.

Als weiterer zentraler Punkt wird die verminderte Kontrolle über die Drogenwirkung und das Verlangen danach angeführt. «Häufig wird angenommen, dass die Kontrolle über das Verhalten im frontalen Kortex sitzt, während das Verlangen subkortikal motiviert ist. Doch unser Gehirn ist ein vernetztes System, das synchron arbeitet», so der Psychiater. Untersuchungen widerlegen die Annahme, dass nur das subkortikale System für das Verlangen verantwortlich ist, während der Kortex «rational dagegenhält».

Erfolgreiche Therapie umfasst mehrere Ebenen

Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial setzen Dopamin frei. Dies verstärkt Verhaltensweisen, die für das Überleben wichtig sind, wie Nahrungsaufnahme oder soziale Interaktionen. Jede dopaminerge Stimulation führe zur Verstärkung von Verhalten. «Der Unterschied zwischen Drogen und natürlichen Verstärkern wie Essen oder Sexualität liegt in der Intensität der Wirkung. Drogen wirken stärker, weil sie direkt ins Gehirn gelangen», erklärte der Referent.

Im Gegensatz zu natürlichen Verstärkern stimulieren Alkohol oder Nikotin Dopamin auch wiederholt, wodurch eine kontinuierliche Verstärkung erfolgt. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Einflussfaktoren, die bei der Entwicklung einer Abhängigkeit relevant sind, etwa die Konditionierung, die bei Rückfällen eine wesentliche Rolle spielt, oder der Einfluss von Endorphinen auf das Belohnungssystem. «Eine erfolgreiche Therapie muss daher mehrere Ebenen umfassen», sagte Prof. Heinz abschliessend.