Leben mit einer hereditären Polyneuropathie
Polyneuropathie ohne Diabetes? Dieses Krankheitsbild gibt es häufiger als vermutet. Betroffen davon ist die steirische Zahnärztin Dr. Martina Kuess. Erst nach langen Irrwegen und vielen Konsultationen von Fussspezialisten stiess sie auf Univ.-Prof. Dr. Michaela Auer-Grumbach, die sich als Neurologin auf vererbte Neuropathien spezialisiert hat.
Zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr bemerkte Dr. Martina Kuess einen zunehmenden Verlust von Kalt-Warm-Empfindungen an den Füssen. «Zunächst habe ich es nicht weiter ernst genommen, vor allem da ich auch viel Sport betrieben habe.»
Als jedoch mehr und mehr Gefühllosigkeit in den Füssen auftrat, suchte die Zahnärztin mehrere Fussspezialisten auf, bekam allerdings immer wieder zu hören:

Patientin Dr. Martina Kuess
«Es kann keine Polyneuropathie sein, denn bei Ihnen besteht schliesslich kein Diabetes.» Sie selbst hatte allerdings bereits die Vermutung, es könnte sich doch um eine Polyneuropathie handeln. Als schliesslich nach einem Bruch des Mittelfussknochens bei ihr ein Charcot-Fuss auftrat, riet ihr eine ihrer eigenen Patientinnen, sich an Univ.-Prof. Dr. Michaela Auer-Grumbach zu wenden.
Diese stellte schliesslich die korrekte Diagnose: Hereditäre sensible autonome Neuropathie (HSAN), eine Unterform der hereditären Polyneuropathien oder Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT).
Laufend neue Familien erkannt
«Immer wieder werden neue Familien mit hereditären Neuropathien erkannt», berichtet Auer-Grumbach, die sich seit 25 Jahren als niedergelassene Fachärztin in Graz auf diese Krankheitsentität spezialisiert hat und auch die Neuromuskuläre Fussambulanz an der Klinischen Abteilung für Orthopädie der MedUni Wien leitet.
«Mein erster Patient war ein junger Mann, der von der Stellungskommission mit der typischen Fuss-Fehlstellung sowie motorischen Problemen zu mir geschickt wurde.» Seither widmet sich Auer-Grumbach klinisch und wissenschaftlich den vererbten Neuropathien. «Es gibt Unterformen mit verschiedenen Ausprägungen, wobei motorische und/oder sensible Nerven unterschiedlich stark betroffen sind und auch gelegentlich hartnäckige Wundheilungsstörungen auftreten können», erklärt Auer-Grumbach. Charakteristischerweise werden diese Patienten oft in Diabetes-Ambulanzen vorgestellt. «Auch mein Vater war Diabetiker und hatte eine Polyneuropathie, wobei wir heute nicht mehr sagen können, ob diese vererbt oder durch den Diabetes entstanden war», ergänzt Kuess.
Die Diagnose erfolgt üblicherweise durch eine genaue Anamnese inklusive Familienanamnese, Messung der Nervenleitgeschwindigkeit sowie eine genetische Untersuchung. Aufgrund der verschiedenen Unterformen gibt es keine einheitliche therapeutische Vorgehensweise. Kuess wird als Patientin derzeit im Rahmen einer Studie mit Serin-Supplementierung behandelt. «Davon erwarten wir uns, dass bestimmte toxische Stoffwechselprodukte im Blut sinken, die für die Nervenschäden verantwortlich sind. Es ist bei dieser speziellen Unterform eine Möglichkeit in das Krankheitsgeschehen einzugreifen», betont Auer-Grumbach. Im Detail werden atypische Sphingolipid-Metaboliten für die Schädigung der peripheren Nerven verantwortlich gemacht.
Krankheits-Management
Im Alltag der Patienten und Patientinnen ist ein gutes Krankheitsmanagement nötig: «Vor allem leide ich an permanenten pulsierenden Schmerzen, besonders nachts», berichtet Kuess. Wird der Charcot-Fuss – charakterisiert durch zystische Veränderungen des nicht verheilenden Bruches – akut, so erkennt sie dies an einer lokalen Erhöhung der Hauttemperatur. «Dann heisst es ruhigstellen, zudem trage ich orthopädische Schuhe und muss sehr gut aufpassen, dass ich mir keine Fussverletzungen zuziehe.» Gegen die Schmerzen hilft Kühlung etwa durch Alkoholwickel. Ganz wichtig sind zudem eine Physiotherapie und ein guter muskulärer Aufbau durch Radfahren und Fitnessstudio, weiss Kuess. «Der Gang wird unsicher und etwa Stiegen abwärts zu steigen wird zur Herausforderung. Ich möchte jedoch so gut es geht selbst dazu beitragen, so lange wie möglich mobil zu bleiben.»
Im Hinblick auf die weitere Erforschung hereditärer Polyneuropathien und entsprechender Therapien engagiert sich Auer-Grumbach im europaweiten Netzwerk ENISNIP (European Network on Inherited Sensory Neuropathies and Insensitivity to Pain). «Gerade bei seltenen erblichen Erkrankungen sind wir auf die Vernetzung und – mit deren Zustimmung – auf die Analyse der Patientendaten angewiesen, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen.» Im Sinne der möglichst frühen Erkennung appellieren Auer-Grumbach und Kuess jedoch, bei entsprechenden Symptomen auch ohne bestehenden Diabetes daran zu denken, dass es sich sehr wohl um eine Polyneuropathie handeln könnte.

Univ.-Prof. Dr. Michaela Auer-Grumbach
Fakten-Check: Hereditäre Polyneuropathien oder Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT)
Die auch nach ihren Erstbeschreibern Charcot-Marie-Tooth benannten hereditären Polyneuropathien betreffen etwa eine Person unter 2.500. Davon ist schätzungsweise nur die Hälfte davon diagnostiziert.
Hereditäre Polyneuropathien oder CMT verursachen Funktionsstörungen der motorischen und/oder sensiblen und/oder vegetativen Nervenfasern. Zu den langfristigen Folgen zählt etwa Muskelschwund an den Extremitäten. Je nach der zugrunde liegenden genetischen Ursache liegt der Krankheitsbeginn bereits in der Kindheit oder auch wesentlich später, bis hin zu den «Late Onset CMT-Formen», die manchmal sogar erst nach dem 60.-70. Lebensjahr manifest werden.
Die zugrunde liegenden Genmutationen werden laufend erforscht, wobei als Ursache verschiedenste zelluläre Stoffwechselprozesse infolge der genetischen Veränderung gestört sein können, die dann zu den Nervenschädigungen führt. Zu den besonderen Verlaufsformen gehört neben der hereditären sensiblen Neuropathie (HSAN) auch die hereditäre motorisch-sensible Neuropathie (HMSN), wobei aktuell mehr als 40 verschiedene Verlaufsformen erforscht wurden. Die Therapie erfolgt symptomatisch sowie durch einen der Krankheit angepassten Lebensstil.
Quelle: cmt-austria.at; Wissenschaftlicher Beirat: Univ.-Prof. Dr. Michala Auer-Grumbach