Koronare Herzkrankheit: unabhängiger Risikofaktor Restcholesterin
Trotz intensiver LDL-Senkung bleibt das kardiovaskuläre Risiko vieler Menschen mit koronarer Herzkrankheit hoch. Eine Langzeitstudie zeigt: Remnant-Cholesterin (RC) spielt eine entscheidende Rolle – unabhängig von klassischen Risikofaktoren.
Take Home Messages
- Die Gesamtmortalität betrug 52,2 %, die kardiovaskuläre Mortalität 20,6 % und die MACE-Rate 39,1 % über den gesamten Beobachtungszeitraum.
- Ein erhöhter RC-Wert war signifikant mit einem höheren Risiko für Gesamtmortalität, kardiovaskuläre Mortalität und MACE verbunden.
- Diese Assoziationen waren unabhängig von klassischen Risikofaktoren wie LDL-C und HDL-C.
- Der Einfluss von RC war sowohl bei Männern als auch bei Frauen ähnlich ausgeprägt.
- Eine Statintherapie hatte keinen erkennbaren Einfluss auf die prognostische Bedeutung von RC.

In der Studie war das Remnant-Cholesterin (RC) ein eigenständiger Risikofaktor für die Gesamt- und kardiovaskuläre Mortalität sowie für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse (MACE).
Dieser Zusammenhang besteht unabhängig von klassischen Risikofaktoren wie LDL-C, HDL-C, Bluthochdruck und Diabetes mellitus.
Neue Perspektive in der kardiovaskulären Medizin
Seit Jahrzehnten zielt die kardiovaskuläre Medizin darauf ab, LDL-Cholesterin (LDL-C) zu senken, um kardiovaskuläre Ereignisse zu verhindern. Doch selbst bei erfolgreicher LDL-C-Reduktion bleibt die Sterblichkeit oft hoch. In den letzten Jahren rückte RC, das den Cholesterinanteil in triglyceridreichen Lipoproteinen widerspiegelt, als eigenständiger Risikofaktor für Atherosklerose und kardiovaskuläre Sterblichkeit in den Fokus.
Die prospektive Studie des Vorarlberg Institute for Vascular Investigation and Treatment (VIVIT) untersuchte nun den Einfluss von RC auf die Langzeitmortalität und das Risiko schwerwiegender kardiovaskulärer Ereignisse bei Menschen mit koronarer Herzkrankheit (KHK). Sie umfasste dabei nicht nur eine grosse Teilnehmerzahl, sondern erstreckte sich auch über einen langen Zeitraum.
Studiendesign
Die Forschenden schlossen 1.474 Personen mit angiografisch gesicherter KHK ein und beobachteten sie im Durchschnitt 11,6 Jahre. Sie bestimmten die RC-Werte aus nüchternen, nicht gefrorenen Blutproben, um präzise Ergebnisse zu erzielen.
Während der Nachbeobachtung erfassten sie drei primäre Endpunkte:
- die Gesamtmortalität,
- die kardiovaskuläre Mortalität sowie
- das Auftreten schwerwiegender kardiovaskulärer Ereignisse (MACE), zu denen Myokardinfarkte und Schlaganfälle zählen.
Ergebnisse
In der Studie verstarben innerhalb des Beobachtungszeitraums 52,2 Prozent (n = 769) der Teilnehmenden. Die kardiovaskuläre Mortalität lag dabei bei 20,6 Prozent (n = 303). Zudem erlitten 39,1 Prozent (n = 576) der Teilnehmenden mindestens ein schwerwiegendes kardiovaskuläres Ereignis. Dabei konnte ein klarer Zusammenhang mit RC festgestellt werden.
Die Analyse ergab, dass ehöhere RC-Werte folgende Risiken signifikant erhöhten:
- für Gesamtmortalität (HR 1,12 [1,03–1,23], p = 0,009),
- für kardiovaskuläre Mortalität (HR 1,20 [1,06–1,36], p = 0,005) und für
- MACE (HR 1,10 [1,01–1,21], p = 0,033).
RC als unabhängiger Risikofaktor
Die Forschenden stellten fest, dass diese Zusammenhänge unabhängig von klassischen Risikofaktoren wie LDL-C, HDL-C, Hypertonie und Typ-2-Diabetes bestehen. Der Effekt zeigte sich bei Männern und Frauen gleichermassen.
Bemerkenswert ist, dass Statine keinen signifikanten Einfluss auf die Prognose in Bezug auf RC hatten. Dies deutet darauf hin, dass RC eine eigenständige Grösse im Risikomanagement darstellt und nicht durch LDL-C-Senkung beeinflusst wird.
Klinische Relevanz von RC
RC ist demnach ein prognostischer Marker für das verbleibende kardiovaskuläre Risiko, das über LDL-C hinausgeht, dem bisherigen Hauptziel einer Lipidtherapie. Es spielt eine zentrale Rolle in der Atherogenese, da es direkt an der Bildung atherosklerotischer Plaques beteiligt ist.
Die Autorinnen und Autoren empfehlen, RC als ergänzenden Risikomarker neben LDL-C zu nutzen. So könnten Menschen mit besonders hohem kardiovaskulärem Risiko besser identifiziert werden. Besonders bei bereits optimiertem LDL-C liefert die RC-Bestimmung wertvolle Hinweise.
Vergleich von RC und LDL-C
Ein zentraler Aspekt der Studie war der Vergleich der prognostischen Aussagekraft von RC und LDL-C. In dieser Kohorte sagte RC das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und Sterblichkeit präziser voraus als LDL-C. «Mit geeigneten präanalytischen und analytischen Methoden ist RC ein zuverlässiger Indikator für das Restrisiko», schreiben die Forschenden.
Derzeit gibt es keine spezifischen Medikamente zur gezielten Senkung von RC. Therapeutische Ansätze konzentrieren sich auf Lebensstiländerungen wie Gewichtsreduktion, gesunde Ernährung und regelmässige Bewegung.
Interview Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz Drexel
«Wir stehen mit der RC-Forschung noch am Anfang»

Prof. Heinz Drexel ist Gründer und Geschäftsführer des Vorarlberg Institute for Vascular Investigation and Treatment (VIVIT). Das VIVIT betreibt angewandte Forschung am Schwerpunktkrankenhaus Feldkirch und Grundlagenforschung in einem institutseigenen Labor in Dornbirn. Das Forschungsteam analysiert seit über 25 Jahren grosse Personengruppen zur Einschätzung des Herz-Kreislauf-Risikos der Vorarlberger Bevölkerung.
Allein im Jahr 2024 wurden 24 wissenschaftliche Studien publiziert.
medonline: Herr Professor Drexel, konnte die vorliegende Studie Subgruppen identifizieren, beispielsweise Alter oder Komorbiditäten, in denen RC eine besonders starke oder schwache Assoziation mit kardiovaskulären Ereignissen aufwies?
Prof. Drexel: Wie wir in der vorliegenden Studie gezeigt haben, hat das Geschlecht keinen Einfluss. Aktuell führen wir eine Studie zu RC bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes durch, hier müssen wir jedoch noch die finalen Ergebnisse abwarten.
Lässt sich aus der Studie ein RC-Grenzwert ableiten, ab dem das Risiko für Mortalität und kardiovaskuläre Ereignisse signifikant steigt?
Nein, für die Festlegung eines klinisch relevanten Grenzwertes werden weitere Studien benötigt.
Wieso scheint RC ein besserer Prädiktor für kardiovaskuläre Mortalität zu sein als LDL-C, und welche Mechanismen könnten dies erklären?
LDL-C ist für die Risikovorhersage in unserer Kohorte nicht gut geeignet, da es durch viele Faktoren beeinflusst wird, wie zum Beispiel die Statin-Therapie, das Alter und Komorbiditäten. Wir konnten beispielsweise in einer Studie aus dem Jahr 2021 (Leiherer et al., Value of total cholesterol readings earlier versus later in life to predict cardiovascular risk) zeigen, dass Cholesterin-Werte von jüngeren Personen für die kardiovaskuläre Risikovorhersage relevanter sind als später im Leben gemessene. RC scheint diesen Limitationen weniger ausgesetzt zu sein. Keinesfalls darf hieraus jedoch geschlossen werden, dass die LDL-C-Senkung durch Statine keinen Nutzen hätte.
Die Studie zeigt, dass Statine keinen Einfluss auf die prognostische Bedeutung von RC hatten. Gibt es Hinweise darauf, dass andere Lipidsenker RC beeinflussen könnten?
Hierzu sind noch kaum Daten verfügbar. Mögliche Herangehensweisen zielen vor allem auf die Senkung triglyceridreicher Lipoproteine ab. Hier könnten vor allem Lebensstilinterventionen, Omega-3-Fettsäuren, Fibrate und C-III-Inhibitoren eine Rolle spielen (siehe auch: Drexel et al. 2023, Triglycerides revisited: is hypertriglyceridaemia a necessary therapeutic target in cardiovascular disease?)
Sollte RC bereits jetzt in die kardiovaskuläre Risikostratifizierung aufgenommen werden, oder bedarf es weiterer Studien?
Wir stehen mit der RC-Forschung noch am Anfang. Weitere Studien werden benötigt, um den Einfluss verschiedenster Faktoren auf RC in verschiedenen Populationen zu untersuchen, Grenzwerte festzulegen und mögliche Therapieansätze zu erforschen. Durch die einfache Messung und Interpretation hat RC jedoch grosses Potenzial, in Zukunft Eingang in die klinische Routine zu finden.
Vielen Dank für das Gespräch!