Medical Tribune
31. Jan. 2025Wie falsche Wahrnehmung und Industrieprodukte die Gesundheit gefährden

«Mein Kind will nicht essen»

Die Ernährung von Kindern steht zunehmend im Fokus medizinischer Experten. Denn während sich Eltern häufig um vermeintliche Essprobleme ihrer Kinder sorgen, übersehen sie oft tatsächliche Risiken im Alltag, sagt Expertin Dr. Corinne Légeret, Universitäts-Kinderspital beider Basel. Dazu gehören heute etwa versteckter Fruchtzucker und eine ungesunde Fokussierung auf Proteinersatzprodukte.

Kinder essen am besten in Gesellschaft
Robert Kneschke/stock.adobe.com
Für viele Essprobleme verordnet Dr. Légeret: «20 Minuten gemeinsam am Tisch sitzen, keine Smartphones».

«Experten unterscheiden grundsätzlich zwischen quantitativer und qualitativer Mangelernährung», sagt Kindergastrologin Dr. Corinne Légeret, Leitende Ärztin Gastroenterologie und Pädiatrie am Universitäts-Kinderspital beider Basel, an einem Vortrag (1).

Während erstere auf eine mangelnde Kalorienzufuhr zurückzuführen ist, betrifft die zweite eine Unterversorgung mit essenziellen Mikronährstoffen – selbst bei normal- oder übergewichtigen Kindern.

Elterliche Ängste und Fehlinterpretationen

Beide spielen im Alltag der Kinderärzte aber eine eher untergeordnete Rolle. Das viel bedeutendere Problem sei der Irrglauben vieler Eltern, ihr Kind esse zu wenig. «Die grösste Gruppe in unseren Praxen sind Eltern, die sich Sorgen machen, obwohl ihr Kind völlig normal gedeiht» erklärt die Spezialistin. Dabei belegen schon die Perzentilenkurven oft, dass kein Anlass zur Besorgnis besteht.

Studien zeigen, dass mittlerweile ein Drittel der Eltern von Kleinkindern diese als problematische Esser wahrnimmt. Besonders in städtischen Gebieten nimmt dieses Phänomen zu, sagt Dr. Légeret.

Tatsächlich bestätigt sich dies allerdings nur bei einem Bruchteil der Fälle. Bei den restlichen Kindern steckt hingegen eine normale kindliche Entwicklung hinter den vermeintlichen Essproblemen.

Kindern vertrauen lernen

So ist es beispielsweise normal, dass Kleinkinder oft nur wenige und kleine Portionen zu sich nehmen. Für Eltern ist dies hingegen oft beunruhigend. «Sind die Perzentilenkurven normal und ein Kind gut entwickelt, steckt meist elterliche Falschwahrnehmung hinter der Problematik» so die Expertin. Eine Portion von vier Pommes Frites werde von Eltern oftmals als klein empfunden, entspricht aber dem Durchschnitt von Kindern zwischen einem und vier Jahren.

Normal ist auch, dass Kinder im Alter von 12 bis 24 Monaten oft nur wenige, ausgewählte Nahrungsmittel zu sich nehmen. «Diese Kinder werden dann heute oft als ‚Picky Eater‘ bezeichnet», so Dr. Légeret. Das Aversionsverhalten in Bezug auf das Essen («Neophobie») wird allerdings von Experten heute als normale Entwicklungsphase angesehen. In dieser Zeit ist das Kleinkind programmiert, sich durch seine eigenen motorischen Fortschritte von der Mutter wegzubewegen. Die Neophobie zielt darauf ab, dass sich Kinder keine giftigen Blätter oder Früchte, die sie selbst finden, in den Mund stecken. Wichtig sei es laut der Spezialistin, den Kindern abgelehnte Nahrungsmittel dennoch immer wieder anzubieten, damit diese eine Chance haben, ins Geschmacksrepertoire integriert zu werden.

Die klare Botschaft der Fachleute lautet im Allgemeinen, dass die meisten Essprobleme keine medizinischen, sondern erzieherische Herausforderungen sind. Eltern sollten lernen, ihren Kindern zu vertrauen, statt sie in starre Ernährungsmuster zu pressen. Kinder haben eine erstaunlich gute Selbstregulation – wenn man sie lässt.

Tischkultur etablieren

Andere Kinder haben oft einfach nicht die Ruhe, sich mit dem Essen näher zu beschäftigen: «Manche Kinder sind so aktiv, dass sie Mahlzeiten einfach ‹vergessen›, und weiterspielen» so Dr. Légeret. Aber auch das Gegenteil – Kinder, die wegen fehlenden Essensritualen oder permanenter Ablenkung beim Essen Schwierigkeiten entwickeln – gibt es.  

Auch hier sehen Fachleute vor allem eine Aufgabe der Eltern. Kinder brauchen feste Essenszeiten, ein strukturiertes Umfeld und eine positive Beziehung zum Essen, betont die Expertin. Das bedeutet etwa, eine Tischkultur zu etablieren, bei der die Familie 20 Minuten möglichst gemeinsam bei Tisch sitzt, und die Kinder alles essen dürfen – aber nicht müssen. Danach werde der Tisch allerdings wieder abgeräumt – Snacks direkt vor oder nach dem Essen gäbe es dann aber nicht, empfiehlt die Spezialistin.

Wann ein Kindergastrologe beigezogen werden sollte

Dennoch gebe es Fälle, bei denen Kinder einem Spezialisten vorgestellt werden sollten, so Dr. Légeret. Dazu gehören sehr ausgeprägte «Picky Eater», bei denen die gesamte Diät aus nur zehn bis 15 Nahrungsmitteln besteht. Auffällig sind dabei ausserdem eine «Markentreue» der Kinder, etwa Butterkekse von nur einem Hersteller akzeptiert werden, oder wenn sich Lebensmittel am Teller nicht berühren dürfen.

Auch bei Kindern, die Angst vor dem Essen zu haben scheinen, könnte mehr dahinterstecken. So sehen Experten diese Problematik oft bei Kindern, die traumatische Erlebnisse in Bezug auf Essen gemacht haben (z.B. Zwangsfüttern). Auch organische Hintergründe wie ein Reflux können bestehen (siehe Kasten).

Red Flags für körperliche Erkrankungen:

  • Dysphagie
  • Aspiration
  • Ausgeprägte Schmerzen während dem Füttern
  • Erbrechen (v.a. immer zur selben Tageszeit)
  • Durchfall
  • Entwicklungsverzögerung
  • Chronische kardio-respiratorische Symptomatik
  • Gedeihstörung

Versteckter Fruchtzucker überall

Ein alarmierendes Problem ist für die Kindergastroenterologin die derzeit beobachtbare massive Zunahme von Fruktose in industriellen Kinderlebensmitteln. So enthalten die als besonders gesund vermarkteten «Quetschies» und die besonders kindgerecht verpackten und teuren Kinderkekse oft hohe Mengen an Fruchtzucker.

Fruktose ist dabei besonders gefährlich, da sie sich in der Leber ansammeln kann und zu einer Fettleber führen kann. «Wir sehen immer häufiger normalgewichtige, sportliche Kinder aus wohlhabenden Familien, die eine nichtalkoholische Fettleber aufweisen» warnt Dr. Légeret. Eine Bestimmung der Leberwerte kann hier Klarheit schaffen.

Die Ursache liegt oft in einem vermeintlich gesunden Ernährungsstil: Eltern ersetzen herkömmlichen Zucker durch Fruchtzucker, ohne sich der negativen Folgen bewusst zu sein.

Proteinwahn bei Teenagern – eine neue Gesundheitsfalle

Gleichzeitig steigt laut der Expertin auch der Konsum von proteinangereicherten Produkten unter Kindern und Jugendlichen drastisch an. Dabei greifen Eltern bzw. junge Männer und Frauen vermehrt zu Eiweissshakes und -riegeln, oft in dem Glauben, dies fördere den Muskelaufbau. Tatsächlich handelt es sich oft um eine Mogelpackung: Auch hier ersetzen Hersteller gerne Glukose durch Fruktose, um den Kohlenhydratanteil zu senken und gleichzeitig die Süsse zu erhalten – ohne, dass mehr Eiweiss enthalten ist.

Die langfristigen Folgen dieser Ernährung – vor allem im Jugendalter – sind noch nicht vollständig erforscht.

Vegan ernähren im Kindesalter? Wie viel Milch für ein Kleinkind?

Im Gegensatz zu früher wird die vegane Ernährung per se heute als gesunde Ernährungsform angesehen, so Dr. Légeret. Die meisten Familien, in denen eine vegane Ernährung gepflegt werde, wären auch gut informiert, etwa was die Aufnahme von genügend Kalorien, Proteinen, Kalzium, Eisen, Zink, Vitamin B2, B12, Vitamin D, Jod und Omega-3-Fettsäuren betreffe. Dennoch sollten Kinder aus diesen Familien regelmässig von einer Ernährungsberatung oder dem Kinderarzt gesehen werden.

In einigen Teilen der Bevölkerung ist es zudem verbreitet, Kindern auch über das erste Lebensjahr hinaus viel Milch zu geben – diese Praxis sollte laut Dr. Légeret überdacht werden. Denn holen sich Kleinkinder ihre Kalorien hauptsächlich von der Milchflasche, führe das oft zu Mangelerscheinungen wie einer Eisenmangelanämie.