Medical Tribune
10. Dez. 2024Gedanken, Verhalten und Gefühle

Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen hilft oft schon Edukation

Wenn der Schmerz anhält, obwohl der Auslöser längst verschwunden ist, spielen oft psychosoziale Faktoren eine entscheidende Rolle. Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen sollte man zunächst erklären, was hinter den Beschwerden steckt, und bei Bedarf eine interdisziplinäre multimodale Therapie anbieten.

kleines Mädchen mit Kopfschmerzen und Problemen
Tom Wang/stock.adobe.com
Nur ein kleiner Teil der Kinder und Jugend­lichen mit chronischem Schmerz braucht eine spezielle Therapie.

Chronischer Schmerz ist eine eigenständige Erkrankung. Man geht davon aus, dass Schmerzen unabhängig von einem nozizeptiven Reiz empfunden werden, weil sich die Reizweiterleitung und -verarbeitung geändert haben.

Häufige Schmerzlokalisationen und diagnostische Hilfsmittel

Der chronischen Schmerzstörung geht im Gegensatz zur anhaltenden somatoformen Schmerzstörung ein physiologischer Prozess voraus, etwa eine Entzündung, erklärt Prof. Dr. Boris Zernikow von der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln (1).

Betroffene Kinder und Jugendliche klagen vorwiegend über Schmerzen an Kopf, Bauch und Bewegungsapparat. Nicht selten wechseln die Lokalisation oder die Beschwerden treten an verschiedenen Stellen gleichzeitig auf. Anamnestisch helfen spezielle Fragebögen für verschiedene Altersklassen und für Eltern (siehe Kasten).

Spezielle Fragebogen für die Anamnese

Für die Anamnese von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen reicht die Schmerz­intensität nicht aus. «Die ist sogar vollkommen egal», meinte Prof. Zernikow. Andere Faktoren sind wichtiger, aber komplex zu erheben. Deswegen wurde der «deutsche Schmerzfragebogen für Kinder und Jugendliche» entwickelt, den es für verschiedene Altersklassen und als Erst- sowie als Verlaufsbogen gibt.

Psychosoziale Faktoren und emotionale Belastungen

Psychosoziale Faktoren sind für den Verlauf der Erkrankung sehr wichtig. Aus Erfahrung weiss Prof. Zernikow, dass Stress und negative Gefühle zu den häufigsten Auslösern zählen.

Fragebogen-Screenings zeigen bei vielen Kindern und Jugendlichen erhöhte Angst- und Depressionswerte, wobei nicht zwangsläufig eine psychische Erkrankung vorliegen muss. Als häufige Komorbidität nannte der Pädiater soziale Phobien.

Während der Coronapandemie habe sich gezeigt, dass es vielen jungen Schmerzpatientinnen und -patienten besser ging, weil sie nicht in die Schule mussten. Nach der Rückkehr in die Schule seien dann oft auch die Schmerzen wiedergekommen.

Edukation als Schlüssel zur Behandlung

Das Wichtigste bei der Behandlung chronischer Schmerzen ist laut Prof. Zernikow die Edukation – zumal Betroffene, deren Eltern sowie zuweisende Ärztinnen und Ärzte oft eine «somatische Fixierung» haben. Um das biopsychosoziale Schmerzverständnis zu vermitteln, eignen sich digitale Medien (siehe Kasten). Die Erklärvideos nutzen Metaphern und Bilder, um die Zusammenhänge zu erläutern, etwa wird die Konnektivität im Gehirn von einem Trampelpfad zu einer dreispurigen Autobahn ausgebaut.

Erklärvideos und weitere Materialien zur Edukation

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie

Chronischer Schmerz ist nach Ansicht des Kollegen eine der wenigen Erkrankungen, die man heilen kann, indem man darüber redet. Nur ein kleiner Teil der Betroffenen braucht eine spezielle Therapie, wie sie das Team um Prof. Zernikow anbietet. Diese sei nötig, wenn nach drei Monaten keine Besserung auftritt. In diesen Fällen eignet sich eine interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST), deren Fokus sich in Richtung psychosoziale Interventionen verschiebt

«Es geht um Gedanken, Verhalten und Gefühle», erklärt der Schmerzspezialist. In Datteln umfasst die dreiwöchige Behandlung unter anderem Edukation, das Trainieren von Schmerzbewältigungsstrategien, Therapie relevanter Probleme in Schule, mit Freunden und Familie sowie Vermittlung angemessenen Elternverhaltens und Familientherapie. Pharmakologisch wird nur selten behandelt, optional erhalten die Kinder und Jugendlichen eine Physiotherapie.

Langzeitwirkung der interdisziplinären Therapie

Verschiedene klinische Studien haben gezeigt, dass solche interdisziplinären multimodalen Schmerztherapien den Zustand der Betroffenen (darunter Schmerzintensität, Funktionalität und Schulfehltage) dauerhaft verbessern können. Die Wirkung lässt sich weiter steigern, wenn auf die IMST eine sozialmedizinische Nachsorge folgt.

Eine Langzeituntersuchung ergab, dass von den 162 jungen Patientinnen und Patienten sieben Jahre nach IMST 58 Prozent keine und 14 Prozent nur leichte chronische Schmerzen hatten. Trotzdem wiesen sie im Vergleich zur Normalbevölkerung eine höhere psychische Beeinträchtigung auf. Hierzu nannte Prof. Zernikow zwei Thesen: «Entweder hat die Schmerzerkrankung dafür gesorgt oder es sind Kinder, die vorher schon sensibler waren, und die Schmerzerkrankung war nur Ausdruck ihrer psychischen Sensibilität.»