Zur Lage der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in der Schweiz
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie treffen immer mehr Patienten auf ein unzureichendes Angebot an Fachärzten. Dr. Jörg Leeners, Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie, Triaplus AG, Lachen, der integrierten Psychiatrie von Uri, Schwyz und Zug, analysiert in einem Gastbeitrag diese Situation.
In der 2016 publizierten Studie (1) des Büros für Arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) wurde festgestellt: «Bezüglich der psychiatrischen und psychotherapeutischen Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen zeigen die Ergebnisse eine deutliche Unter- und Fehlversorgung in allen Belangen.» Das in der Studie getroffene Fazit lautete:
- Die Ergebnisse der Studie verweisen auf eine deutliche Unter- und Fehlversorgung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesundheitsversorgung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen. Betroffen sind alle Regionen und Angebotsformen.
- Es bestehen lange Wartezeiten für einen Therapieplatz. Dazu gibt es einen grossen Mangel an Kinder- und Jugendpsychiatern.
- Sowohl bei den Erwachsenenpsychiatern als auch bei den Kinder- und Jugendpsychiatern gab der grösste Anteil an, überlastet zu sein (59 % bzw. 68 %), gefolgt von einer ziemlich passenden Auslastung (37 % bzw. 25 %). Deutlich am grössten ist die Überlastung von Kinder- und Jugendpsychiatern im institutionellen Bereich (ambulant/intermediär 89 %, stationär/gemischt 92 %).
Nachfrage hat deutlich zugenommen
Seit der Corona-Krise ist der Bedarf nach Kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungen deutlich gestiegen. 32 Kinder und Jugendliche (0–18 Jahre) pro 1.000 Versicherte haben sich 2020 in einer ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis behandeln lassen. Gegenüber 2012 ist dies eine Zunahme um 74 Prozent. Zahlen des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Zürich (KJPD) zeigen fast eine Verdoppelung der Nachfrage.
Die Aussagen der Ärztlichen Direktorin des KJPD, Prof. Susanne Walitza, 2023 waren: «Die Erhebungen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie weisen einen kontinuierlichen Anstieg der Inanspruchnahme unserer ambulanten und auch stationären Angebote seit 2016 aus. Neben diesem bereits bestehenden Anstieg zeigte sich mit der Covid-19-Pandemie eine erhebliche Akzentuierung und ein massiver weiterer Bedarf an Hilfe. Dies ist vor allem an der deutlich gestiegenen Inanspruchnahme des Notfalldienstes zu erkennen. Telefonische Beratungen und Notfall-Vorstellungen vor Ort nahmen in einem nie dagewesenen Ausmass zu.»
Auch andere Institutionen dokumentieren die Not der Kinder und Jugendlichen. So zeigen die aktuellen Zahlen von Pro Juventute, dass zwischen 2019 und 2022 der Beratungsaufwand bei der Nummer 147 um 40 Prozent zugenommen hat. Die Krisenberatungen sind in diesem Zeitraum um über 180 Prozent angestiegen.
Versorgungsbereich psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher (1)
Untersuchungsdimension | Mangelnde Versorgung und Optimierungspotenzial |
Angebotssituation | |
Fachpersonal | Mangel an Kinder- und Jugendpsychiatern und delegiert tätigen Kinder- und Jugendpsychologen |
Behandlungsangebote | Mangel an Behandlungsplätzen unabhängig von Region, Gemeindetyp und Setting |
Ressourceneinsatz | Unterfinanzierung von systemeinbeziehenden Vernetzungsleistungen |
Kaum Kinder- und Jugendpsychiater in einigen Kantonen
Zur fachärztlichen Versorgung dieser Kinder und Jugendlichen gab in der Schweiz 2023 insgesamt 741 Kinder- und Jugendpsychiater, davon sind 564 (76 %) niedergelassen, 167 im Spital. Von den 40.000 Ärzten in der Schweiz haben weniger als zwei Prozent den Facharzttitel für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Es ist auffällig, dass es in einigen Kantonen viele Fachärzte gibt, während es in anderen Kantonen sehr wenige oder gar keine niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater hat. 2023 gab es im Kanton Zürich 149, im Kanton Genf 149, im Kanton Waadt 143, im Kanton Bern 75 und in den Kantonen Baselland und -Stadt 72 niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater. 588 oder knapp 80 Prozent der Kinder- und Jugendpsychiater befinden sich in diesen sechs Kantonen. Demgegenüber gibt es in den Kantonen Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden und Obwalden keine, in Glarus, Nidwalden, Schaffhausen, Schwyz, Uri und Zug keine bzw. nur einen bis drei niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater.
Fachärzte haben eine ungünstige Altersstruktur
Die Altersstruktur der Fachärzte ist ungünstig: Etwa 150 der berufstätigen Kinder- und Jugendpsychiater sind über 65 Jahre, etwa 260 von ihnen über 60 Jahre und etwa 380 von ihnen über 55 Jahre alt. (2)
Somit sind ca. 591 Ärzte noch im regulären Arbeitsalter. Gegen 52 Prozent der Kinder- und Jugendpsychiater in der Schweiz sind über 55 Jahre alt, sodass in den nächsten zehn Jahren ca. 380 von den 741 Kinder- und Jugendpsychiatern im Rentenalter sind. Demgegenüber erwerben wenig Ärzte den Facharzttitel. Es sind von 2012 bis 2022 im Durschnitt pro Jahr etwa 26 Facharzttitel abgelegt worden. Es kommt also unter Berücksichtigung der Pensionierungen zu einer Abnahme der Fachärzte von etwa 20 pro Jahr, das heisst, in zehn Jahren werden statt 742 noch 542 Fachärzte arbeiten, also ein Viertel weniger.
Diese Altersstruktur zeichnet sich schon lange ab. Hinzu kommt, dass sowohl bei zwei Dritteln der weiblichen Fachärzte und auch bei einem Drittel der männlichen Fachärzte der Trend zur Teilzeitarbeit steigt. Ausserdem behandeln viele Fachärzte auch junge Erwachsene über 18 Jahre.
Neue Angebote benötigen ärztliches Personal
Seit 2020 sind vermehrt kinder- und jugendpsychiatrische Angebote eröffnet worden, was natürlich zu begrüssen ist. Zum Beispiel hat im Kanton Zürich seit 2022
- die Modellstation SOMOSA als Spezialklinik stationäre Plätze für «reguläre» jugendpsychiatrische Aufenthalte zur Verfügung gestellt,
- die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich zur Versorgung von Jugendlichen auf den Erwachsenenstationen einen interdisziplinären Konsiliardienst aufgebaut,
- das Kriseninterventionszentrum der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich acht stationäre Betten für Jugendliche in einer akuten Krise der PUK eröffnet,
- die Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland (ipw) das stationäre Angebot um zwölf Betten erweitert,
- das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) am Kantonsspital Winterthur (KSW) sein stationäres Angebot in der Psychosomatik für Kinder und Jugendliche um sechs Betten erweitert,
- zur Verbesserung der Versorgungssituation im ambulanten Bereich ein Ausbau der Personalbestände des Kinderspitals Zürich, des SPZ am KSW und der Ambulatorien für Kinder und Jugendliche der PUK stattgefunden und
- die Clienia die Eröffnung eines stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsangebotes für 24 Kinder und Jugendliche 2024 in Oetwil angekündigt.
- Alle diese neuen Angebote benötigen ärztliches Personal und konkurrieren um die wenigen Fachärzte.
Wartezeit beträgt über sechs Monate
Deutlich mehr behandlungsbedürftige Kinder und Jugendliche treffen auf ein – schon vor der Pandemie – unzureichendes Facharztangebot, welches sich jedes Jahr weiter verringert. Die Finanzierung sowohl von ambulanten Leistungen wie auch der intermediären Angebote wie Tageskliniken hat sich drastisch verschlechtert. Die Zeit auf den Wartelisten für einen ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsplatz beträgt über sechs Monate. Die Wartezeit auf einen stationären Therapieplatz ist in etwa ähnlich.
Aus dem OBSAN-Bericht des BAG, der diese Situation schon 2016 beschrieben hatte, wurden nur unzureichende Konsequenzen gezogen. Es muss deshalb überlegt werden, wie man mit dieser Situation umgehen kann.
- Stocker D et al. Versorgungssituation psychisch erkrankter Personen in der Schweiz. Studie erstellt im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit, Abteilung Gesundheitsstrategien, Sektion Nationale Gesundheitspolitik. Büro für Arbeits- und sozialpolitische Studien BASS AG, Bern (2016).
- Ärztestatistik der FMH. Berufstätige Ärztinnen und Ärzte nach Altersgruppen (2023)