Medical Tribune
15. März 2023Einfallstor für ZNS-Erkrankungen

Beginnen Erkrankungen des Gehirns im Darm?

Erkrankungen des Gehirns gehen häufig mit einer gestörten Darmbarriere einher. Dies spricht dafür, dass Veränderungen der intestinalen Integrität als Marker für neurologische Krankheiten wie Parkinson oder Demenz dienen könnten. Eventuell eignen sie sich sogar als Therapieziel.

Illustrtion der Darm-Hirn-Achse
ArtemisDiana/gettyimages

Die Darmbarriere spielt nicht nur eine gros­se Rolle für die Gesundheit, weil sie die Absorption von Nährstoffen erleichtert und das Eindringen von Pathogenen verhindert, ist in einer aktuellen Übersichtsarbeit in Lancet Gastroenterology zu lesen (1).

Sondern auch die bidirektionale Achse Mikrobiom–Darm–Gehirn gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Hinweise aus Tiermodellen

Die Darmbarriere wird heute als dynamisches Netzwerk verstanden, das den Übertritt von bakteriellen Produkten, etwa kurzkettigen Fettsäuren, ins Blut und damit auch ins Gehirn reguliert. Dort lösen die mikrobiellen Metaboliten nicht nur Krankheiten aus, sie können auch bei der Koordination physiologischer Prozesse helfen.

Eine Störung der Barrierefunktion kann somit aber auch das Mikrobiom verändern und bei ZNS-Erkrankungen inflamma­torische Reaktionen in Gang setzen. Darauf deuten auch präklinische Studien hin: In Tiermodellen wurde ein Zusammenhang für eine gestörte Barrierefunktion und der Ausprägung von Parkinson, Morbus Alzheimer, MS und der amyotrophen Lateralsklerose gezeigt. Zudem fiel auf, dass eine Modulation des Mikrobioms ebenso wie die Aktivierung von 5-Hydroxy­tryptamin die Symptome bessert, indem sie die Wandfunktion repariert.

Für eine kausale Beziehung zwischen Darmwandstörung und ZNS-Pathologie fehlen jedoch noch definitive Daten. Darüber hinaus weiss man noch nicht, ob sich die intes­tinalen Veränderungen schon vor der zentralnervösen Störung oder danach entwickeln. Aufgrund der bisherigen Ergebnisse scheint es aber denkbar, dass frühe Veränderungen der Darmbarriere zu einer Verlagerung von Pathogenen in die enterische Mukosa beitragen.

Patienten mit Störungen des ZNS auf intestinale ­Symptome untersuchen

Die Folge wäre eine Verbreitung im Blutkreislauf mit eventuellem Übertritt ins Gehirn. Zudem könnten funktionale Störungen der Grenzschicht enterische Immunreaktionen und inflam­matorische Prozesse auslösen. Diese bewirken dann neuroplastische Veränderungen im enterischen Nervensystem, die über den Signalweg zwischen Darm und Gehirn zerebrale Erkrankungen triggern.

Wenn diese pathophysiologische Hypothese zutrifft, eignet sich die Evaluation der intestinalen Barrierefunktion und -inte­grität eventuell zur Frühdiagnose einer Darmbeteiligung bei ZNS-Erkrankungen. Für das Vorgehen empfehlen die Autoren dann einen einfachen Algorithmus: Patienten mit gesicherter oder vermuteter zerebraler Störung (Anamnese, Klinik) sollten gezielt auf intestinale Symptome untersucht werden.

Wenn derartige Beschwerden vorliegen, wird im nächsten Schritt eine Kolo­skopie empfohlen. Dies wird eventuell ergänzt durch eine weitere bildgebende Diagnostik, mit der sich Struktur und Inflammation der Darmbarriere darstellen lassen. Wenn sich keine Veränderungen finden, ist eine enterale Beteiligung unwahrscheinlich. Sinnvoll wären auch Blut- und Urintests, bisher stehen jedoch keine entsprechenden Biomarker zur Verfügung.

Exakter Mechanismus der Interaktion noch unbekannt

Eventuell lassen sich die neuroinflammatorischen Prozesse und Symptome auch therapeutisch beeinflussen. Zur Modulation des intestinalen Mikrobioms werden am häufigsten Probiotika eingesetzt, die bestimmte Bakterienmischungen enthalten (Lactobacillus casei etc.). Kleine Studien sprechen für eine mögliche Wirksamkeit bei ZNS-Erkrankungen.

So konnte für Alzheimer-Patienten (n =20) innerhalb von 28 Tagen eine Reduktion der fäkalen Haptoglobin-Spiegel gezeigt werden. Das spricht für eine Verbesserung der intestinalen Barrierefunktion. Bei Parkinson-Patienten (n = 32) führte die Applikation resistenter Stärke, die im Dickdarm bakteriell abgebaut wird, zu einer Reduktion von nichtmotorischen Symptomen, Depressivität und Obstipation. Zur Multiplen Sklerose liess sich im Tiermodell ebenfalls ein günstiger Einfluss der probiotischen Behandlung auf motorische und kognitive Einschränkungen ermitteln.

Es ist allerdings noch unklar, ob das Wiederherstellen des Mikro­bioms auch die Funktion der Darmbarriere verbessert und die Progression zentralnervöser Erkrankungen aufhält.

Referenz

  1. Pellegrini C et al. The intestinal barrier in disorders of the central nervous system. Lancet Gastroenterol Hepatol. 2023 Jan;8(1):66-80. doi: 10.1016/S2468-1253(22)00241-2