Borderline-Persönlichkeitsstörung: Diagnose und Therapie
Rund sechs Prozent der Patient:innen, die in eine Hausarztpraxis kommen, leiden an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese ist gekennzeichnet durch ausgeprägte Empfindlichkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen, die Instabilität des Selbstbildes, Stimmungsschwankungen und Impulsivität. Dr. Sebastian Euler, Klinikdirektor i.V. der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich, erklärt die diagnostischen Kriterien und therapeutischen Möglichkeiten zum Krankheitsbild.*
Die Borderline-Störung wird in ICD-10 und ICD-11 als eigenes Krankheitsbild geführt. Das war aber nicht immer so – historisch sahen Psychoanalytiker das Störungsbild an der Grenze zwischen Neurose und Psychose, daher stammt der Begriff «Borderline».
Patient:innen mit einer Borderline-Störung zeichnen sich durch Instabilität aus: In der Gefühlsregulation, dem Selbstbild und ihren sozialen Beziehungen. Kernsymptome sind ihre emotionale Instabilität, Impulsivität, Identitätsstörungen, und sich daraus ergebende interpersonellen Probleme. Oft besteht ein hoher Leidensdruck bei den Betroffenen – es kommt zu Suizidversuchen und nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhaltensweisen (NSSV).
«Selbstverletzungen betreffen über 90 Prozent der Patient:innen und werden bei weiblichen Patientinnen meist mit scharfen Gegenständen ausgeführt. Diese NSSV werden von Suizidversuchen unterschieden, bei denen die Betroffenen die Intention haben, sterben zu wollen», berichtet Dr. Sebastian Euler vom Universitätsspital Zürich.
Borderline-Persönlichkeitsstörung ist keine Lebenszeitdiagnose mehr
Zwar sind die Symptome der Persönlichkeitsstörung seit ihrer Erstbeschreibung im DSM im Jahr 1980 bis heute dieselben, berichtet Dr. Euler. In den neuen Diagnosesystemen haben sich aber vor allem zwei wichtige Punkte geändert. Zum einen ist die Borderline-Störung keine Lebenszeitdiagnose mehr. Viele Patient:innen erfüllen die Kriterien einer Borderline-Persönlichkeitsstörung einige Jahre nach der Diagnosestellung nicht mehr.
In der neuen ICD-11 kann zudem der Schweregrad einer Persönlichkeitsstörung bestimmt werden mit einer Abstufung in leicht, mittel und schwer.
Die Entstehung der Borderline-Persönlichkeitsstörung: Gen-Umwelt-Interaktion
Wie viele andere psychische Störungen, lässt sich auch die Borderline-Störung kaum auf eine einzelne eindeutige Ursache zurückführen. Forscher sehen aktuell ein Zusammenspiel von Genetik und Epigenetik sowie negativen Kindheitserlebnissen als ätiologischen Hintergrund an. Dazu zählen sogenannte Fehlabstimmungen in der Interaktion mit den frühen Bindungspersonen. Diese beziehen sich u.a. auf frühe non-verbale Interaktionen. «Gibt es in der Eltern-Kind-Beziehung wenig Resonanz und Kommunikation, kann das bereits Säuglinge in ihrer Entwicklung prägen», so der Experte.
Diagnose möglichst früh stellen und besprechen
Die Empfehlungen für die Behandlung basieren auf den Leitlinien der Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) von 2018, bei denen Dr. Euler die Federführung hatte sowie den S3-Leitlinie der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) von 2022. Die Basis der Diagnostik ist ein halbstrukturiertes Interview, im Zuge dessen die Fachperson die typischen Symptome erfragt. Der Experte betont, dass Kliniker nicht zurückhaltend sein sollen, die Diagnose insbesondere auch im Jugendalter zu stellen und transparent zu besprechen. Dabei soll auch vermittelt werden, dass die Störung gut behandelbar ist. Nur so kann eine störungsspezifische Behandlung frühzeitig eingeleitet werden.
Wichtig ist, auch allfällige Komorbiditäten in den Behandlungsplan zu integrieren. Ausserdem sollte ein Krisenplan erstellt werden, betont Dr. Euler. Dieser soll Reaktionsmöglichkeiten im Fall einer Krise aufzeigen. Ein Krisenplan kann beispielsweise aus folgenden Fragen mit zugehörigen Antworten bestehen: Was hat mir bisher geholfen, Krisen entgegen zu wirken? Mit welchen Symptomen haben sich Krisen bisher angekündigt? Was kann ich selbst tun, damit es mir in einer Krise besser geht? Bei wem kann ich mir Hilfe holen? In diesen Krisenplan müssen Angehörige wie Eltern oder Partner miteinbezogen werden. Kommt es im Verlauf zu einer stationären Einweisung, sollten Fachpersonen die Kriseninterventionen möglichst kurz halten, da längere stationäre Aufenthalte den Patient:innen häufig eher schaden als nutzen.
Psychotherapie primär, Pharmakotherapie zurückhaltend empfohlen
Im Regelfall werden Patient:innen mit einer Borderline-Störung ambulant psychotherapeutisch behandelt. Die Leitlinien der SGPP empfehlen ein bis zwei Sitzungen pro Woche über eins bis drei Jahre. Geeignete störungsspezifische Therapieformen sind die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), die mentalisierungsbasierte Psychotherapie (MBT), die Schematherapie (ST)und die Übertragungs-fokussierte Psychotherapie (TFP). Die MBT und DBT zeigen dabei die beste Evidenz. Empfohlen werden auch störungsspezifische Gruppentherapien.
Eine Pharmakotherapie wird von beiden Leitlinien nur sehr zurückhaltend empfohlen – diese soll nicht die primäre Behandlungsform sein, sondern allenfalls in Krisensituationen symptomorientiert eingesetzt werden. In Hinblick auf die medikamentöse Therapie betont Dr. Euler, dass man die Therapie so kurz und die Dosis so niedrig wie möglich halten soll. Ausserdem ist eine regelmässige Evaluation wichtig, welche Medikamente nicht hilfreich waren oder nicht mehr benötigt werden und abgesetzt werden können. Auf Benzodiazepine und alle abhängigkeitserzeugenden Medikamente soll unbedingt verzichtet werden.
In der Realität zeigt sich jedoch genau das Gegenteil zu den Empfehlungen: Studien belegen, dass stationäre Borderline-Patient:innen häufig im Durchschnitt drei Psychopharmaka erhalten, davon sind 70 Prozent Antidepressiva und 30 Prozent Benzodiazepine – beides Substanzen, die für die Behandlung explizit nicht empfohlen werden
Borderline-Störung in der medizinischen Grundversorgung
Dr. Euler führt aus, dass die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung unterdiagnostiziert ist und stigmatisiert wird. Aus diversen Untersuchungen lässt sich ableiten, dass rund sechs Prozent der Patient:innen, die in eine Hausarztpraxis kommen, an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. Erhebungen konnten zeigen, dass das rund 18 Prozent der chronischen Schmerzpatient:innen und 26 Prozent der depressiven Patient:innen in der Hausarztpraxis betrifft.
Diese Patient:innen werden im Behandlungskontext oft als "manipulativ" empfunden. Dass sie seelisch krank sind, geht dabei häufig unter. Unter Fachpersonen werden Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oft als schwierig empfunden. Diese Stigmatisierung schafft aber weitere Probleme. «Grundversorgern kann man empfehlen, Borderline-Patient:innen Halt zu geben.Aber auch die Wahrnehmung und Kommunikation von Grenzen ist wichtig. Psychiatrische oder psychologische Fachpersonen sollten nicht erst einbezogen werden, wenn es zu einer ausgeprägten Störung der Arzt-Patient:innen-Beziehung in der Hausarztpraxis gekommen ist.
Empfohlen werden regelmässige ärztliche Konsultationen – nicht nur ad hoc bei Krisen. Wenn eine Patientin oder ein Patient mit einer Borderline-Störung von mehreren Fachpersonen oder Einrichtungen behandelt wird, sollte eine aktive Kommunikation zwischen den Involvierten hergestellt werden.»
Quelle
*WebUp «Updates für Hausärzte» des Forums Medizin Fortbildung (FOMF) vom 28.11.2022