Medical Tribune
9. Dez. 2022Ergotherapie

Pacing bei Long Covid: Jeder Einbruch ist ein Rückschlag

Im Ergotherapie-Zentrum Uster, wo Tiziana Sägesser arbeitet, werden seit einem Jahr auch Patienten beraten, die noch Wochen und Monatenach einer Covid-19-Infektion an persistierenden, schwerwiegenden Symptomen leiden. Die Long-Covid-Betroffenen, die in die Praxis überwiesen werden, haben grosse Schwierigkeiten, ihren Alltag zu bewältigen. Grund dafür sind Symptome wie ausgeprägte Fatigue, Post-Exertional Malaise (PEM), Herzrasen, Schlafstörungen, Kopf- und Gliederschmerzen, Konzentrationsprobleme, Schwindel und eine Reihe weiterer Beschwerden (siehe Kasten). Schon nach leichter mentaler, körperlicher oder emotionaler Anstrengung erleiden sie immer wieder Einbrüche, die eine massive Verschlechterung der Symptome zur Folge haben, bis hin zu sogenannten «Crashes», also Einbrüchen, die mehrere Tage andauern können (siehe Kasten). «Jeder Einbruch ist ein Rückschlag – sowohl für den Körper als auch für die Psyche», erklärt die Ergotherapeutin. «Die Betroffenen sind manchmal so ausser Gefecht gesetzt, dass sie kaum mehr stehen können.»

Oft folgt bei Long Covid schon auf kleine Anstrengungen der Einbruch. Pacing hilft.
iStock/South_agency

Zwei Krankheitsbilder bei Long Covid

Posturales Tachykardiesyndrom (POTS): Beim POTS handelt es sich um eine Fehlregulation des Kreislaufes. Typisch ist dabei ein Anstieg der Herzfrequenz (> 30/min) ohne Blutdruckabfall oder eine absoluten Herzfrequenz im Stehen über 120/min im Rahmen einer Orthostase. Das POTS kann sich dabei durch Beschwerden wie Herzrasen, Schwindel, Benommensein, Kopfschmerzen oder Synkopen äussern.

Post-exertional Malaise (PEM): Verschlechterung der Symptomatik nach geringfügiger körperlicher und/oder geistiger Anstrengung.

Mit Pacing das Energieniveau berechenbarer machen

In der Ergotherapie hilft Frau Sägesser ihren Patienten, die eigenen Energiereserven zu quantifizieren und einzuordnen, und mit diesen möglichst haushälterisch umzugehen. Durch dieses «Pacing» (Energiemanagement) können es die meisten Patienten schaffen, aktive Kontrolle über ihre Symptome zu bekommen.

Ein erster Schritt ist dabei die Erstellung eines Energieprofils, in das Patienten mehrmals täglich ihr Energieniveau eintragen sowie in Beziehung mit den Aktivitäten setzen, mit denen sie sich gerade beschäftigt haben. Ist dann erst einmal der Verlauf über eine bestimmte Weile dokumentiert, lassen sich meist Muster erkennen:

  • Was hat zu einem Einbruch geführt?
  • Zu welcher Tageszeit ist das Energieniveau eher hoch oder eher niedrig?
  • Wie verhält sich das Energieniveau in Bezug auf meine Tagesaktivitäten?
  • Zu welchem Zeitpunkt müssen Pausen eingelegt werden?
  • Welche Art und Dauer von Pausen sind hilfreich, um zu regenerieren?

Darauf aufbauend versuchen Patienten dann, ihren Alltag neu zu strukturieren. Pausen sind für die Fachfrau dabei ein wichtiges Element: «Meist reagieren die Betroffenen erst, wenn sie schon erschöpft sind. Dann brauchen sie oft sehr lange Pausen, um die Energie wieder aufzubauen. Es gilt, vorausschauend kurze und effektive Pausen einzuplanen und diese konsequent einzuhalten. So bleibt das Energieniveau über den Tag stabiler.»

Ein weiterer Schwerpunkt des Energiemanagements ist die Erarbeitung von Energiesparstrategien. Damit ist die Adaptation der Alltagsaktivitäten gemeint, so dass sie kraftsparender durchgeführt werden können.

Dem Körper Gelegenheit geben, sich zu erholen

Wie lange es dauert, bis die Erkrankung abklingt, ist kaum vorhersehbar. Meist tritt aber schon eine Besserung der Symptomatik auf, sobald es den Patienten gelingt, die Pacing-Strategien in ihrem Alltag umzusetzen und ihre Belastungsgrenzen einzuhalten. Die ergotherapeutische Beratung unterstützt diesen Prozess. «Je weniger Einbrüche die Patienten haben, desto höher ist das Potenzial, dass der Körper sich erholen kann. Bei einigen Patienten reichen schon wenige Therapiesitzungen aus, um das Pacing zu vermitteln, so dass sie es selbständig umsetzen können. Andere brauchen Begleitung über einen längeren Zeitraum. Die Beratung kann im Rahmen von Einzeltherapien, aber auch in Kleingruppen erfolgen», berichtet die Ergotherapeutin.

Bei einigen Patienten verbessert sich die medizinische Problematik schon nach drei bis vier Monaten, andere arbeiten über ein Jahr daran. Was aber am wichtigsten ist: Sie haben gelernt, ihre Energie sorgfältig einzuteilen, ihr Alltag ist berechenbarer geworden und ihre Aktivitäten nehmen langsam aber stetig zu. «Wenn Patienten ihr Energieniveau stabilisiert haben, können sie schon bald damit beginnen, sanfte Steigerungen einzubauen, und frühere Aktivitäten in angepasster Weise wieder aufzunehmen. Während sie noch starke Einbrüche haben, geht das nicht. Sie werden sonst jedes Mal zurückgeworfen.»

Umdenken erforderlich

Bei der Umgestaltung des Alltages handelt es sich gemäss Tiziana Sägesser im Grunde um das Erlernen neuer Verhaltensweisen: «Die Patienten müssen komplett umdenken.» Eine grosse Herausforderung besteht darin, die gängige Vorstellung in Bezug auf Leistung und Leistungsaufbau vorerst zurückzustellen: «Ein klassischer Kraft- und Konditionsaufbau oder Hirnleistungstraining ist bei Long Covid meist kontraproduktiv. Eine vorsichtige Leistungssteigerung ist erst nach einer stabilen Phase ohne Einbrüche möglich und sollte keine Verstärkung der Symptome hervorrufen.» Für viele Patienten ist im Zusammenhang mit dem posturalen Tachykardiesyndrom (POTS) ein Herzfrequenz-Monitoring hilfreich, um sich zusätzlich zur subjektiv empfundenen Belastungsgrenze auch an objektiven Messwerten orientieren zu können. Dies ist an «guten» Tagen besonders wichtig.

Gelingt die Umsetzung dieses Prinzips, spüren die Patienten meist eine erste Besserung der Symptome und fühlen sich ermutigt : «Das Erlernen des Energiemanagements ist ein dynamischer, aktiver Prozess. Die Betroffenenschätzen es, ein Instrument in die Hand zu bekommen, mit dem sie eigenverantwortlich arbeiten können. Dadurch kommen sie aus dem Gefühl des Ausgeliefertseins heraus. Ich erlebe, dass die Patienten dadurch ihre Zuversicht behalten und gut vorankommen.»

Auch andere Viren lösen Fatigue aus

Schon vor Corona waren Ergotherapeuten für den Umgang mit Patienten mit Erschöpfungszuständen geschult. «Die Fatigue ist ein Begleitsymptom, das wir von anderen Erkrankungen, wie der Multiplen Sklerose, nach Schlaganfällen oder nach Krebsbehandlungen kennen,» so Frau Sägesser.

Nach dem Bekanntwerden der Fatigue durch Long Covid werden zusehends Patienten mit chronischem Fatigue-Syndrom anderen Ursprungs von Ärzten zur Ergotherapie überwiesen. «Diese Patienten haben sich oft jahrelang ohne therapeutische Begleitung durchgeschlagen.»  Für sie wünscht sich Frau Sägesser jetzt die gleiche Aufmerksamkeit wie für Menschen mit Long Covid.

Alles psychosomatisch?

Die immer wiederkehrende Behauptung, die Gründe für die Erschöpfung lägen in mangelnder Motivation, Einbildung, oder grob «Psychosomatik», begraben, kann Frau Sägesser nicht unterstützen: «Die Patienten, die ich betreue, würden nichts lieber tun, als wieder zu arbeiten, sich um ihre Familie zu kümmern, Freunde zu treffen und ihren Hobbies nachzugehen. Es handelt sich dabei vorwiegend um Menschen, die voll im Leben gestanden sind, mit stabilen körperlichen, sozialen und psychischen Ressourcen.»

Eine korrekte und rasche Diagnose von Long Covid ist wichtig, damit die Betroffenen adäquate Therapien erhalten und das Pacing erlernen. «Das verhindert, dass sie über lange Zeit der psychischen Belastung von wiederholten Rückschlägen ausgesetzt sind, und begünstigt den Genesungsprozess.»

Der Ursache von Long Covid auf der Spur

Viele Menschen mit Erkrankungen mit Fatigue und post-exertionaler Malaise, wie dem Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronischen Fatigue-Syndrom (ME/CFS) und Long Covid, weisen zelluläre Veränderungen auf. Dazu gehören etwa die mitochondriale Dysfunktion, oxidativer Stress, und entgleiste Laktat-Spiegel.

Neue Forschungsarbeiten zeigen, wie Viren das verursachen könnten. Um Energie für die eigene Replikation und das Überleben in der Zelle zu gewinnen, scheinen Viren die zellulären Energieproduzenten (Mitochondrien) anzuzapfen. In der Folge haben infizierte Zellen geringere Mengen des Energieträgers ATP für den eigenen Stoffwechsel zur Verfügung. Die Zellen fahren als Gegenreaktion die ATP-Produktion hoch, was aber zu einer erhöhten Produktion an reaktiven Sauerstoffspezies (ROS) führt. Diese wiederum fördern Entzündungsprozesse und eine Herabsetzung des Kohlendioxid-Partialdrucks im arteriellen Blut (Hypokapnie). Beides könnte für die bei Long Covid verursachten Symptome verantwortlich sein. Durch den anhaltend erhöhten Energiebedarf und die darauf folgende ROS-Produktion schädigen die Mitochondrien dann immer mehr.

Dabei könnten die Trigger der Long-Covid-Symptome mit der Art der von der mitochondrialen Dysfunktion betroffenen Zellen zusammenhängen. Sind etwa Muskelzellen betroffen, reagiert der Körper negativ auf körperliche Anstrengung. Wenn hingegen Zellen des Darms betroffen sind, kann eine Verschlimmerung der Symptome durch schwer verdauliche Nahrungsmittel ausgelöst werden.

Quellen: