Was hilft gegen den Ärztemangel?
In der Schweiz übersteigt die Nachfrage nach Hausärzten das Angebot bei weitem. Vor welchen Herausforderungen die Schweizer Hausarztmedizin steht und welche Chancen sich für sie bieten, besprachen Professor Dr. Sven Streit, Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) und Julia Crameri, Innopool AG, Schüpfen, beim 16. Zentralschweizer Ärzte-Forum.
«Wir befinden uns in einem Spannungsfeld», betonte Prof. Streit und bezog sich dabei auf den wachsenden Bedarf nach hausärztlicher Versorgung, der einem Mangel an Grundversorgern gegenübersteht. «Je nach Kanton verzeichnen wir in der Schweiz einen Ärztemangel von 25–72 Prozent.»
60 Prozent nehmen keine neuen Patienten mehr an
Gemäss der Workforce Studie von 2021 zur hausärztlichen Versorgung im Kanton Bern haben etwa 60 Prozent der befragten Hausarztpraxen bereits einen teilweisen oder vollständigen Aufnahmestopp für neue Patienten eingeführt (1). Rund zwei Drittel der Praxen gaben zudem an, dass aus ihrer Sicht ein Hausärztemangel vorliegt.
Neben diesen aktuellen Zahlen präsentierte Prof. Streit auch Ergebnisse früherer Erhebungen zum Thema des hausärztlichen Nachwuchses. Äusserten 2008 nur 10 Prozent aller Medizinstudenten den Wunsch nach dem Studium Hausarzt oder Hausärztin zu werden, so waren es im Jahr 2017 bereits 20 Prozent. Hinzu kamen 40 Prozent der Studenten, die interessiert an einer künftigen hausärztlichen Tätigkeit waren.
Positiv fällt auch auf, dass die Mehrheit der Interessierten in ländlichen Regionen oder der Peripherie von Städten, also den Bereichen mit dem grössten Mangel an Hausärzten, arbeiten möchte. Um das wachsende Interesse der Studenten zu fördern, ist es wichtig auf Massnahmen wie das Praxisassistenzprogramm zurückzugreifen, denn 80 Prozent der Teilnehmer dieses Programms wurden schliesslich zu Hausärzten. Dies ist laut dem Referenten eine Stellschraube, an der die kantonale Politik besonders effizient drehen kann.
«Ohne die Unterstützung aus dem Ausland geht es nicht»
«In der Zukunft besteht die Chance einer Entspannung beim Hausärztemangel», sagte Prof. Streit und bezog sich dabei auf eine aktuelle Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums. Die Untersuchung prognostiziert bis 2030 einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Neben den oben genannten Entwicklungen ist hierfür massgeblich die Zuwanderung von ausländischen Fachärzten verantwortlich. «Ohne die Unterstützung aus dem Ausland geht es nicht», betonte der Experte. Schon heute besitzen über 19 Prozent der Grundversorger im Kanton Bern ein ausländisches Diplom (1).
Eine weitere Chance besteht in der interprofessionellen Zusammenarbeit verschiedener Akteure der Grundversorgung, also z.B. Hausärzte, Apotheker, Pflegefachfrauen und Medizinstudenten. Ein Beispiel für die gelungene Umsetzung dieses Konzepts ist die Aktion #konolfingenimpft, durch die innerhalb von drei Samstagen 700 Patienten eine Covid-Impfung erhielten.
Interprofessionalität als Chance für die Zukunft
Die Interprofessionalität entlastet die Hausärzte und maximiert den Nutzen für die Patienten und die wirtschaftliche Effizienz des Gesundheitssystems. Auch im gemeinsamen Management des Diabetes mellitus durch Hausärzte und «Medizinische Praxiskoordinatoren mit klinischer Richtung» bestätigt sich der Nutzen dieses Modells. (2) «In den teilnehmenden Praxen verringert sich in 33 Prozent der Fälle die Anzahl der Konsultationen, die Patienten mit Diabetes benötigen», resümierte Prof. Streit.
Um das Spannungsfeld des Hausärztemangels nachhaltig aufzulösen, sind laut dem Experten weiterhin eine patientenzentrierte Medizin, Fortschritte in der Digitalisierung und stabile politische Rahmenbedingungen erforderlich.
Die Generation Y in der Schweizer Hausarztmedizin
«Die Generation Y ist Ihre Zukunft», betonte Frau Crameri und gab Empfehlungen, wie Arbeitgeber ihre Attraktivität beim Nachwuchs steigern können.
Erwartungen der Generation Y:
- Führungskompetenz der Vorgesetzten
- harmonisches Teamklima
- flexible Arbeitszeitmodelle
- effiziente Systeme und Prozesse
- integrative Organisation und Struktur
- Leistungsfördernde Entwicklungsmöglichkeiten
Empfehlungen an Arbeitgeber:
- Beschäftigen Sie sich mit den Erwartungen und Bedürfnissen (s.o.) der Generation Y
- Steigern Sie die Attraktivität als Arbeitgeber in allen Bereichen des Unternehmens nicht nur z.B. abteilungsbezogen
- Stärken Sie die Führungsqualitäten der Vorgesetzten
- Versprechungen aus der Recruitingphase sollten in der Realität umsetzbar sein
Referenzen
- Stierli R et al. Primary Care Physician Workforce 2020 to 2025 - a cross-sectional study for the Canton of Bern. Swiss Med Wkly. 2021 Sep 10;151:w30024. doi: 10.4414/SMW.2021.w30024
- Ansorg AK et al. Quality of chronic care for patients with type 2 diabetes in practices with and without a Clinical Specialized Medical Assistant (CSMA) - a cross-sectional study from Switzerland. Swiss Med Wkly. 2022 Jun 22;152:w30180. doi: 10.4414/smw.2022.w30180