«Long Covid erfordert interdisziplinäres Vorgehen»
Ein halbes Jahr nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 leiden noch rund drei Prozent aller Infizierten an mittelschweren bis schweren Symptomen. Ein Experte berichtet, was Patienten bei der Regeneration unterstützen kann, und wie Abklärung und Therapie am besten in Angriff genommen werden.
«Langanhaltende Symptome nach einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus können Patienten sowohl nach mildem als auch nach schwerem Verlauf treffen,» sagt Dr. Marco Laures, leitender Arzt Pneumologie an der Klinik Barmelweid (1). Long Covid haben Menschen laut geltender WHO-Definition dann, wenn drei Monate nach einem wahrscheinlichen oder nachgewiesenen Infekt nach wie vor funktionelle Einbussen mit neuen Symptomen bestehen, die über mindestens zwei Monate anhalten (2).
Wie sieht Long Covid aus?
Nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 können sehr unterschiedliche Langzeit-Symptome auftreten. Am häufigsten sind die Symptomkomplexe
- Respiratorische Beschwerden
- Fatigue/Müdigkeit (siehe Kasten), sowie
- Kognitive Einbussen («brain fog»)
Long-Covid-Fatigue: Eine Müdigkeit, die sich nicht «wegschlafen» lässt
Bei der Post-Covid-Fatigue leiden Patienten unter Müdigkeit, Erschöpfung oder Antriebslosigkeit. Patienten verspüren dabei meist keinen erhöhten Schlafdruck oder Einschlafneigung. Auch wenn sie schlafen, verschwindet die Fatigue nicht.
Wie häufig eine Post-Covid-Erkrankung auftritt, liess sich bisher schwer beantworten: Das lag einerseits an der Vielfalt der Symptome, als auch an den ständig wechselnden Definitionen. Aktuell spricht eine grosse internationale Metaanalyse von 3,7 Prozent Betroffenen nach einer nachgewiesenen Corona-Infektion. Leidtragende sind überproportional Frauen und Mädchen – sie machen 63 Prozent der Long-Covid-Patienten aus (3).
In einer kürzlich veröffentlichten Züricher Studie hatten rund 25 Prozent der Infizierten nach sechs Monaten noch Symptome (4). Diese reichten in ihrer Intensität von leicht bis schwer; die Symptomatik der meisten Betroffenen war glücklicherweise wenig ausgeprägt. Vier Prozent der Untersuchten litten jedoch nach sechs Monaten noch an Symptomen, die mit einer teilweisen Arbeitsunfähigkeit einher gingen – drei weitere waren aufgrund von schweren Symptomen vollständig arbeitsunfähig. Der Zustand der meisten verbesserte sich innerhalb der nächsten sechs Monate: Nach 12 Monaten waren es «nur» noch 12 Prozent, die immer noch leichte Symptome hatten – insgesamt sind vier Prozent aber weiterhin im Berufsalltag eingeschränkt. «Das spricht zwar insgesamt für eine günstige Prognose, aber in Anbetracht von 3,7 Millionen laborbestätigten Fällen, die mittlerweile in der Schweiz aufgetreten sind, scheint diese Zahl sehr relevant,» ordnet Dr. Laures ein.
Bis jetzt fehlt die mechanistische Erklärung
Zu den genauen pathophysiologischen Hintergründen der Symptome ist bislang nur wenig bekannt. Zwar wurde in mehreren Organen eine Viruspersistenz nachgewiesen, und auch Autoimmunprozesse, Mikrobiomstörungen und Organschäden dürften nach der Infektion bei manchen eine Rolle spielen. «Aber keine dieser Beobachtungen kann das Gesamtbild von Long Covid erklären.» Der Experte mahnt, dass auch die psychosozialen Ressourcen eines Patienten in die Rechnung miteinbezogen werden müssen. «Auch sie können dazu beitragen, dass Symptome aggraviert werden oder chronifizieren.»
Er berichtet von einem Fall aus seiner Praxis, bei dem eine 48-jährige Mechanikerin über ein halbes Jahr lang an ausgeprägter Müdigkeit litt, und sämtliche Therapieversuche scheiterten. «Im Endeffekt kam heraus, dass die Frau zusätzlich zu ihrer Arbeit im landwirtschaftlichen Familienbetrieb mithalf, und spätabends für sich und ihre Tochter eine aufwändige Spezialdiät zubereitete.» Als die Patientin ihre Arbeitslast reduzierte, besserten sich auch die Symptome.
Vorgehen in der Hausarztpraxis
Dr. Laures betont, dass der Hausarzt im Fall von Long Covid vor allem eine Gatekeeper-Funktion hat: «Long Covid ist eine komplexe Erkrankung mit hohen Fallzahlen von Patienten mit unterschiedlichen funktionalen Einschränkungen und prognostischen Verläufen, bei denen zudem mehrere Organsysteme betroffen sein können. Dem kann man nur mit einer fachübergreifenden abgestuften Vorgangsweise begegnen, an deren Anfang Hausärzte und Long-Covid-Ambulanzen stehen.» Danach folgen gezielte diagnostische Schritte, sowie eine individuell spezifische Therapie, die neben Fachärzten auch Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Sozialberater involvieren kann.
Dr. Laures empfiehlt, als erstes ein Assessment angelehnt an aktuelle deutsche S1-Empfehlungen durchzuführen (5). Dieses schliesst eine Anamnese mit körperlicher Untersuchung inklusive neurologischem, psychischem und funktionellen Status mit ein. Helfen kann dabei der EPCOA-Erfassungsbogen für Post-COVID-Assessment der swiss insurance medicine (6). Ein derart standardisiertes Vorgehen kann im weiteren Verlauf die Koordination von Behandlungs- und Rehabilitationspfaden, sowie Wiedereingliederungsmassnahmen erleichtern.
«Finden sich dann keinerlei Warnsignale, ist ein abwartendes Vorgehen (in Übereinkunft mit dem Patienten) meist gerechtfertigt. Gegebenenfalls sollte ein Feedback-Intervall definiert werden.» Patienten mit erhöhter Tendenz zur Chronifizierung (z.B. psychische oder psychosomatische Beschwerden in der Vorgeschichte, hohe psychosoziale Belastung) sollten hingegen genau beobachtet werden.
Kausale Therapie gibt es noch keine
Da die genaue Ursache für Long Covid nicht bekannt ist, gibt es bislang auch noch keine kausale Therapie. «Es bleibt beim rein symptomorientierten Ansatz.» Für Hausärzte ist das oft nicht einfach, denn, «die Erwartung für eine kausale Behandlung ist riesig,» berichtet Dr. Laures. Der wichtigste Ansatz ist für ihn die Patienteneduktion. Dazu gehört, Patienten über die mögliche Vielfalt und Variabilität der Symptome und weiteren Verläufe aufzuklären, und sie zu einem guten Selbstmanagement anzuleiten: Etwa, sich realistische Ziele zu setzen, eigene Ressourcen wahrzunehmen, oder auch selbst Informationen im Netz nutzen zu lernen (siehe Kasten).
Zuverlässige Internet-Ressourcen zu Long Covid
Bei Fatigue genau hinhören
Besonders bei der Therapie für Patienten mit Post-COVID-Fatigue gibt es einiges zu beachten, erklärt Dr. Laures. «Nach einer Belastung kommt es oft zu einer Symptomverschlimmerung, und die Patienten benötigen eine ausgeprägte Regenerationsphase, um sich wieder erholt zu fühlen.» Diese Post-Exertional Malaise – auch als «Crashes» bezeichnet – kann nach einer körperlichen, geistigen oder emotionalen Anstrengung auftreten.
Auch hier gibt es keine kausale Therapie; um die Symptomatik zu verbessern und eine Chronifizierung zu vermeiden, ist eine symptomorientierte Behandlung aber unbedingt erforderlich. Am effektivsten ist dabei das Pacing, bei dem der Patient lernt, sich mittels Planung, Prioritätensetzung und gezielten Ruhephasen seine (körperlichen, kognitiven und emotionalen) Ressourcen besser einzuteilen. Oder, wie es Dr. Laures umschreibt: «Tun Sie stets weniger, als es Ihre Kraft gerade erlaubt.»
Erst wenn der Patient nicht mehr ständig Einbrüche erlebt, kann die Aktivität kontinuierlich und vorsichtig gesteigert werden. «Dabei gibt ausschliesslich der individuelle Erfahrungsschatz den Fortschritt vor. Ob ein bestimmter Spaziergang unternommen werden kann, kann etwa nur die Erfahrung der vergangenen Tage sagen.» Dr. Laures hält es daher für sinnvoll, ein Symptomtagebuch zu führen. «Das kann dann auch den Zusammenhang der emotionalen Belastung mit körperlichen Symptomen objektivieren.»
Referenzen
- Forum für medizinische Fortbildung. WebUp Updates für Hausärztinnen und Hausärzte - 6 Highlights in 60 Minuten. 20. Juni 2022
- World Health Organization (WHO). Post COVID-19 condition (Long COVID). 16. Oktober 2021, abgerufen am 13. Juli 2022
- Wulf Hanson S et al. A global systematic analysis of the occurrence, severity, and recovery pattern of long COVID in 2020 and 2021. medRxiv [Preprint]. 2022 May 27:2022.05.26.22275532. doi: 10.1101/2022.05.26.22275532.
- Kobel T. "Noch keine Therapie für Long Covid." Universität Zürich, News, 15. März 2022, abgerufen am 13. Juli 2022
- Koczulla AR et al. S1-Leitlinie Post-COVID/Long-COVID. AWMF, Register Nr. 020/027, Stand 12.07.2021
- Swiss Insurance Medicine. EPOCA - Erfassungsbogen für Post-Covid Assessment. Stand 17. März 2022