Neue Entwicklungen bei Haarerkrankungen
Bei der Diagnostik und Therapie von Haarerkrankungen hat sich einiges getan. Deshalb erarbeiteten Experten einen Konsensus zum Einsatz neuer Alopezie-Therapien, Haarkosmetika und Trichoskopie-Methoden.
Jeder Patient, der sich wegen Haarausfall in Behandlung begibt, sollte mindestens einmal trichoskopisch untersucht werden. Darin waren sich die Experten (s. Kasten unten) einig, liest sich im kürzlich veröffentlichten europäischen Konsensus-Statement (1). Dies kann die Diagnose genauer machen und vielleicht auch andere, bisher unentdeckte Krankheiten ans Licht bringen, die den Haarverlust verursachen.
Fallen bei der Trichoskopie entzündliche Veränderungen der Kopfhaut, perifollikuläre Pigmentationen oder Hyperkeratosen auf, lautet das Vorgehen: Biopsie. So lässt sich eine assoziierte vernarbende Alopezie ausschliessen. Auch bei Patienten, die über Juckreiz der Kopfhaut klagen, rät das Gremium zu einer bioptischen Abklärung, um mögliche diffuse Varianten lichenoider Alopezien nicht zu übersehen.
Minoxidil, Antiandrogene und Immunsuppressiva
Je nach Patient und Alopezie-Variante ergeben sich verschiedene neue Therapieoptionen. Niedrig dosiertes orales Minoxidil (5 mg) eignet sich z.B. für Männer mit androgenetischer Alopezie. Bisher ist das Medikament aber kommerziell nicht in dieser Dosis erhältlich und muss vom Apotheker hergestellt werden. Da der Wirkstoff in den verfügbaren höheren oralen Dosen als Antihypertonikum eingesetzt wird, lassen sich aber bei Abweichungen von der Zusammensetzung kardiovaskuläre Nebeneffekte nicht ausschliessen.
Mit oralem Bicalutamid, einem nichtsteroidalen Antiandrogen, bietet sich mittlerweile eine zusätzliche Option für Frauen mit nichtvernarbender Alopezie – wenn die bisherigen Therapien versagt haben. Die Substanz hat in einigen Studien ein gutes Sicherheitsprofil gezeigt und erreicht ihre maximale Wirkung etwa nach einem Jahr. Allerdings macht eine solche Therapie nicht nur die Kontrolle der Leberwerte alle drei bis vier Monate erforderlich, sondern auch, dass Frauen im gebärfähigen Alter bis zwei Monate nach Therapierende eine sichere Kontrazeption betreiben.
Es spricht nichts gegen den Einsatz von Dermatokosmetika
Eine Mesotherapie mit dem Antiandrogen Dutasterid wird schon seit einigen Jahren bei androgenetischer Alopezie eingesetzt. Bisher gibt es zwar kein etabliertes Therapieprotokoll, in Form von Mikroinjektionen (0,5 mg/d) hat es sich aber zumindest bei Männern in Studien als sicher und effektiv erwiesen. Als Option wäre es für beide Geschlechter denkbar.
Bei androgenetischen und sekundär vernarbenden Alopezien sind Haartransplantationen ein etabliertes Verfahren. Auch Patienten mit frontal fibrosierender Alopezie, die in den letzten zwölf Monaten stabil war, profitierten von einer Haartransplantation, wenngleich nicht dauerhaft. Nur 40 Prozent der Grafts überlebten in den Studien länger als fünf Jahre. An der hohen Zufriedenheit der Patienten änderte dies in Studien allerdings nichts.
Rolle von Mikronährstoffen wird viel diskutiert
Auch wenn die Alopecia areata nicht als Autoimmunerkrankung geführt wird, sind schwere Formen mit einer Aktivierung des Immunsystems assoziiert. Deshalb bietet sich bei Patienten mit mässiger bis schwerer Alopecia areata auch eine systemische Therapie z.B. mit Kortikosteroiden, klassischen Immunsuppressiva oder JAK-Inhibitoren an. Plättchenreiches Plasma kann man dagegen in der Zweitlinie als zusätzliche antiinflammatorische Therapie eines Lichen planopilaris erwägen, obgleich die Evidenz noch limitiert ist.
Um Missempfindungen oder Juckreiz der Kopfhaut in Verbindung mit einer Alopezie zu behandeln, kann das antientzündlich wirksame Naltrexon in niedrigen Dosen von 1–5 mg verschrieben werden, wenn konventionelle Behandlungen wie topische Steroide versagen.
Alterungsprozess
Als Triggerfaktor für die Alterung von Haarfollikeln gilt der oxidative Stress. Ob die Supplementation mit Antioxidanzien den Alterungsprozess aufhalten kann, ist unbekannt. Um die Biologie des Haarfollikels und die Einflüsse darauf besser zu erforschen, werden innovative In-vitro-Modelle gebraucht, die den nativen Haarfollikel möglichst gut reproduzieren. So liessen sich auch neue Substanzen finden, die intra- und extrafollikuläre Signalwege gezielt beeinflussen und so den Haarausfall stoppen.
Viel diskutiert wird die Rolle von Mikronährstoffen (u.a. Eisen, Vitamin D, Zink) für den Haarausfall. Trotz mangelnder Evidenz erscheint es sinnvoll, bestehende Mängel an Mikronährstoffen durch Nahrungsergänzungsmittel oder Nutrikosmetika auszugleichen, um z.B. ein telogenes Effluvium zu verbessern. Insbesondere sollte Eisen supplementiert werden, mit dem Ziel, einen Ferritinspiegel > 40 µg/l zu erhalten.
Auch Evidenz für die Wirksamkeit von Dermakosmetika (Lotionen und Shampoos, die dem Haarausfall vorbeugen sollen) fehlt bisher weitgehend. Es spricht aber auch nichts dagegen, dass die Patienten sie anwenden, auch weil sie sich dadurch oft besser fühlen.
Abgestimmt zugestimmt
Die Experten des Steering Committee hatten aus den Studien der letzten fünf Jahre insgesamt 20 Empfehlungen bzw. Statements formuliert und sie in einem zweistufigen Verfahren 45 dermatologischen Spezialisten vorgelegt. Als konsentiert wertete man Empfehlungen, bei denen mehr als 80 Prozent der Teilnehmer in einer vierstufigen Skala «stimme völlig zu» oder «stimme zu» angekreuzt hatten. Dies wurde in der ersten Stufe für 75 Prozent der Empfehlungen erreicht, nach Überarbeitung der übrigen und Präsentation der zugrunde liegenden Evidenz bei 100 Prozent.
Referenz
Meyer-Gonzalez T et al. J Current controversies in trichology: a European expert consensus statement. J Eur Acad Dermatol Venereol. 2021 Nov;35 Suppl 2:3-11. doi: 10.1111/jdv.17601