Die neue FMH-Präsidentin Dr. Yvonne Gilli zu den behördlichen Tarifen beim Impfen
Die neue FMH-Präsidentin Dr. Yvonne Gilli geht mit den Behörden hart ins Gericht. Die verfügten niedrigen Tarife, mit denen sich die Hausärztinnen und Hausärzte für das Impfen ihrer Patienten zufrieden geben soll(t)en, seien eine Zumutung, ja eine Respektlosigkeit gegenüber den Grundversorgern, redet sie in einem Gespräch mit Medical Tribune nach ihren ersten 100 Tagen Klartext. Es liege nun an den Kantonen, die Ärzteschaft zusätzlich zu unterstützen.
Medical Tribune: Frau Dr. Gilli, Sie haben die ersten 100 Tage als neue FMH-Präsidentin überstanden. Was sind die grössten Unterschiede zwischen der Präsidiumsfunktion und dem Mitglied des Zentralvorstandes, dem sie vorher angehörten?
Dr. Gilli: Es ist schon ein grosser Unterschied, ob man als einfaches Mitglied des Zentralvorstandes ein themenspezifisches Ressort betreut oder das Ganze im Auge haben muss und für alle nicht ressortspezifischen Fragen in der Verantwortung steht. Neben dem normalen Tagesgeschäft kam und kommt immer noch die Pandemie als zusätzliche Herausforderung auf uns zu.
Ich bereite gerade die 73. Sitzung des Zentralvorstandes über Covid seit Ausbruch der Krise vor. Gleichzeitig ist das Gesundheitswesen auf der politischen Ebene momentan besonders stark im Umbruch, was ebenfalls beträchtliche Kräfte bindet. Ich denke insbesondere an die grosse KVG-Revision unter dem Titel Kostendämpfung, ebenso an die geplante einheitliche Finanzierung von stationär und ambulant. Es gilt politische Prozesse einerseits zu begleiten, aber auch zu antizipieren, also die nächsten Schritte möglichst vorauszusehen. Die erste Phase als FMH-Präsidentin war zusammengefasst schon eine hektische Zeit.
Haben Sie eigentlich vor, einen anderen Stil als Ihr Vorgänger Dr. Jürg Schlup einzubringen – oder geht einfach alles nahtlos weiter bei der FMH?
Die erwähnten Themenschwerpunkte sind gesetzt. Kontinuität ist deshalb wichtig, ich habe sicher nicht vor, einen Reset-Knopf zu drücken. Der Wechsel im Präsidium ging nahtlos über die Bühne; erstens, weil Jürg Schlup regulär zurücktrat. Da blieben keine Kränkungen zurück. Und zweitens war ich als einfaches Mitglied des Zentralvorstandes mit all den Abläufen schon gut vertraut. Ungeachtet dessen ist es aber auch so, dass eine solche Ablösung nicht für alle Mitarbeitenden leicht verläuft, weil man sich auf die neue Person zuerst einstellen muss.
Stichwort Corona: Jeder Kanton, jede kantonale Ärztegesellschaft macht, was er respektive sie will. Finden Sie diesen Föderalismus beim Impfen gut oder wünschten Sie sich eine einheitlichere Linie?
Die Kompetenz im Gesundheitsbereich liegt nun einmal bei den Kantonen, wobei die Situation überall ein bisschen anders ist. Am besten bewährten sich die Impfzentren in den Städten. Impfungen konnten zweckmässig und effizient in grossem Stil durchgeführt werden. Das war vor allem in der ersten Phase, in der sehr viele Menschen schnell geimpft werden mussten, die adäquateste Lösung. Aber inzwischen haben wir eine neue Ausgangslage, weil das Gros der Vulnerablen geimpft ist.
Und was heisst das?
Die Impfzentren sollten ihren Dienst langsam einstellen. Denn sie sind betriebswirtschaftlich nur zu rechtfertigen, wenn in kurzer Zeit viele Menschen geimpft werden. Es ist an der Zeit, diese Aufgabe in die Hände der Hausärztinnen und Hausärzte zu legen. Dieser Übergang muss jetzt geplant werden. Gerade ältere Menschen, die wenig mobil sind, und solche, die lieber auf den Rat ihres vertrauten Hausarztes bauen und diesen statt ein Impfzentrum aufsuchen, wüssten dieses Angebot bestimmt zu schätzen.
In einigen Kantonen wie etwa in Basel möchten die Hausärzte noch so gerne impfen. Aber sie geben sich mit dem offerierten Tarif nicht zufrieden und blocken deshalb ab.
Für diese Reaktion habe ich volles Verständnis. Der Ärzteschaft wurden 24,50 Fr. pro Impfung angeboten. Das ist eigentlich eine Unverschämtheit, ja eine Respektlosigkeit gegenüber den Grundversorgern. Betriebswirtschaftlich rechnet sich diese Leistung für eine Arztpraxis nie. Für diesen Betrag löst ein Handwerker keine Schraube. Ergänzen muss man noch, dass die Hausärzte vor allem in der ersten Phase ein beträchtliches Ansteckungsrisiko in Kauf nehmen mussten, weil es an Schutzmaterial fehlte.
Die Impfzentren erhalten noch bedeutend weniger Geld pro Impfung.
Ja, 14,50 Fr. pro Impfung. Auch das rechnet sich trotz der grösseren Menge ebenfalls nicht. Aber die Differenz berappen bei den Impfzentren die Steuerzahler, im Gegensatz zu den Praxen, bei der die Grundversorger dafür selber aufkommen müssen.
Haben Sie Ihre Kritik bei den zuständigen Stellen deponiert?
Sogar mehrmals. Wir haben unter anderem Kostenrechnungen vorgelegt, um die Problematik aufzuzeigen. Doch weder die Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) noch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hatten bis jetzt ein Gehör für unsere sachlich begründete Kritik. Bei den Tarifverhandlungen war die FMH nicht beteiligt, weil es sich um einen behördlich verordneten Tarif handelt, nicht um eine Tarifpartnerschaft. Es liegt nun an den Kantonen, die Ärzteschaft zusätzlich zu unterstützen, damit Impfungen mindestens kostendeckend durchgeführt werden können.
Was wäre für Sie denn ein Tarif, den Sie als vollkostendeckend bezeichnen würden?
Je nach Praxis und Ausstattung liegt dieser Tarif bei 50 bis 60 Fr. pro Impfung.
Gemäss einer Umfrage, die oft zitiert wurde, will sich rund ein Viertel der Ärzteschaft selber gar nicht gegen Covid impfen. Wie soll man dieses Ergebnis interpretieren?
Das Problem an der Umfrage liegt darin, dass sie im Ausland und vor der Zulassung des ersten Impfstoffes lanciert wurde, bevor man überhaupt Näheres über den Impfstoff wusste. Damals war eine gewisse Zurückhaltung sicher noch verständlich. Ich kenne heute aber keine nennenswerte Gruppe von Ärzten mehr, die sich nicht impfen lassen will. Ein sehr kleiner Teil muss wegen Kontraindikationen davon absehen. Und einen noch kleineren Teil zähle ich zu den Verschwörungstheoretikern. Bei rund 43 000 Mitgliedern muss man immer mit dem einen oder anderen Abweichler rechnen. Ich würde aber sagen, dass gefühlte 95 Prozent der Ärzteschaft inzwischen geimpft sind oder sich – wie ich – in den nächsten Tagen oder Wochen noch impfen lassen werden.
Verlassen wir das Feld Corona. Ein Thema, das die Ärzteschaft auch besonders bewegt, ist das geplante Globalbudget im ambulanten Bereich. Sind Sie eine ebenso vehemente Kritikerin wie Ihr Vorgänger?
Ganz bestimmt. Eine Lehre für alle sollte doch gerade die Situation mit Corona gewesen sein. Es war unmöglich, den Bedarf an Intensivbetten auch nur zwei Wochen im Voraus zuverlässig zu prognostizieren. Wie soll denn ein Globalbudget über die ganze ambulante Versorgung etwas taugen, bei dem wir den Bedarf Jahre im Voraus kennen sollen? Eine Planwirtschaft im Gesundheitswesen macht in diesem Bereich überhaupt keinen Sinn. Die FMH wird sich gegen dieses Ansinnen stark zur Wehr setzen.
Ein Dauerbrenner mit noch vielen Baustellen und Abwehrreflexen ist ebenso das elektronische Patientendossier. Sind Sie von diesem Projekt eigentlich selber noch überzeugt?
Mit dem Thema Digitalisierung und dem Patientendossier habe ich mich schon früh intensiv beschäftigt. Das war mein Dossier, weil ich die letzten vier Jahre das Departement Digitalisierung und eHealth bei der FMH führte. Als Arbeitsinstrument, das die Praxistätigkeit der Ärzteschaft unterstützt, bin ich immer eine Befürworterin des Patientendossiers gewesen. Aber jetzt ist etwas anderes daraus geworden, nämlich eine völlig unattraktive Dokumentenablage. Es braucht einen kompletten Relaunch, der wieder das ursprüngliche Ziel in den Mittelpunkt rückt. Warten wir ab, was die laufende Gesetzesrevision bringt. Beifügen möchte ich noch, dass unsere Branche die digitalen Möglichkeiten keineswegs ablehnt. Im Gegenteil: Der Arztberuf ist hochtechnologisch geworden, und die Ärzteschaft nützt hilfreiche digitale Werkzeuge gerne.
Zum ersten Mal eine Frau
Dr. Yvonne Gilli (Jahrgang 1957) präsidert die FMH seit Februar 2021, als erste Frau dieser Verbindung. Nach der Schulzeit absolvierte sie zuerst eine Ausbildung als Pflegefachfrau, holte danach die Matur auf dem zweiten Bildungsweg nach und studierte Medizin. Sie verfügt über einen Facharzttitel Allgemeine Innere Medizin. In der Politik machte sie bei den Grünen Karriere. Von 2007 bis 2015 gehörte sie dem Nationalrat an. Dr. Gilli ist verheiratet und Mutter von drei Kindern.
Letzte Frage: Ein Dauerthema bei Ihrem Verband sind auch immer wieder die Rahmenbedingungen für die Ärzteschaft. In einem Radio-Interview kurz nach Ihrem Antritt haben Sie gesagt, dass es gute Rahmenbedingungen braucht, damit die Ärzte ihren Beruf mit Begeisterung ausüben. Wo harzt es denn noch besonders?
In den Spitälern entspricht eine gesunde Work-Life-Balance einem immer grösseren Bedürfnis. Gerade junge Ärztinnen und Ärzte sehen sich oft mit einer sehr grossen Arbeitslast konfrontiert. In den Praxen stören sich viele an der Überreglementierung. Die medizinischen Versorger üben ihren Beruf mit grossem Engagement und grosser Freude aus, aber sie möchten selber einen befriedigenden Gestaltungsspielraum haben und nicht laufend mehr Vorgaben von aussen vorgesetzt bekommen. Und ganz wichtig für uns ist, dass das Tarifmodell Tardoc endlich Realität wird.
Besten Dank für das Gespräch!
Interview: Markus Sutter