Medical Tribune
26. Feb. 2016Wahnhafte Störung

Wenn Patienten sich auffällig verhalten

Der 30-Jährige kommt neu in ihre Praxis und verlangt, sofort mit ihnen zu sprechen. Auf Diskussionen mit ihren Helferinnen lässt er sich erst gar nicht ein. Ist der Mann krank oder kann er sich einfach nicht benehmen?

«Ungebührliches Verhalten» kann auf vieles hindeuten: Intoxikation, wahnhafte Störung oder schlicht eine schlechte Kinderstube. Irrt dagegen ein älterer Patient im Winter ohne Schuhe und nur im Kliniknachthemd über die Flure, sticht jedem ins Auge, dass etwas gesundheitlich nicht stimmt. Einem psychiatrisch Unerfahrenen bereitet das Erkennen und Einordnen von Symptomen vor allem aus zwei Gründen Schwierigkeiten:

  • Der psychiatrische Patient gibt seine Hilfsbedürftigkeit nicht unbedingt so deutlich zu verstehen wie der organisch Kranke.
  • Manche Symptome lassen sich nicht sofort als solche durchschauen, weil sie auch im «normalen » menschlichen Verhaltensrepertoire einen Platz haben.

Dazu kommt noch, dass sich die Kommunikation mit den Betroffenen oft schwierig gestaltet. Nicht selten weicht auch das, was der Patient selbst wahrnimmt, von der eigentlich vorliegenden Problematik erheblich ab.

Manchmal muss man sich einfach Zeit lassen

Schnelles Eingreifen, wie wir es sonst oft gewöhnt sind, kann beim psychiatrischen Patienten durchaus kontraproduktiv sein, mahnt Privatdozent Dr. Peter Neu von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Jüdischen Krankenhauses Berlin. Denn vielfach hilft nur die gründliche Verhaltensbeobachtung weiter. Beispiel: Eine 25-Jährige wird reglos sitzend auf dem Fussweg gefunden, ihre Augen sind offen, aber sie reagiert nicht auf Ansprache. Dieses Bild bleibt auch nach Einlieferung in eine Notaufnahme bestehen. In solchen Fällen muss man damit rechnen, dass zunächst kein einziger medizinischer Helfer der Patientin Informationen entlocken wird, erklärt der Autor. Also heisst es erst einmal genau hinschauen in der Hoffnung, im Lauf der Zeit zielführende Hinweise zu erhalten.

Wann liegt ein psychiatrisches Akutsyndrom vor?

Genausogut kann es sein, dass Patienten das Personal erst einmal auf die völlig falsche Spur führen. Wie die leidende 50-Jährige, die bei Aufnahme in der Ambulanz der Ärztin miteilt, sie habe einen Herzinfarkt und brauche schnelle Hilfe. Die ausführliche Anamneseerhebung bringt dann eine langjährige Angsterkrankung ans Licht. Kurz vor Ankunft in der Klinik hatte die Patientin einen stark bevölkerten U-Bahnhof aufgesucht, was vermutlich eine Attacke auslöste. Unnötige komplexe Herzdiagnostik konnte so vermieden werden.

Um die erste Einschätzung zu erleichtern, nennt Dr. Neu eine Reihe wichtiger Zeichen für ein mögliches psychiatrisches Akutsyndrom.

Desorientierung: Eine Störung der Orientierung kann sich auf Zeit, Ort, Situation oder Person beziehen. Manchmal fällt sie sofort auf, oft macht sie sich aber erst bemerkbar, wenn der vorher ruhige Patient anfängt, merkwürdig zu handeln. Wichtig ist zu eruieren, wann das Ganze begonnen hat, um zwischen länger dauernder (z. B. Demenz) oder akuter Erkrankung (z. B. Delir) zu unterscheiden. Bei der Suche nach den Auslösern (s. Kasten) sollten Sie nach Hinweisen auf eine Intoxikation fahnden, Fieber messen und auf Auffälligkeiten bei der körperlichen/neurologischen Untersuchung und den Laborwerten achten.

Feindseliges Auftreten als Zeichen für Angst

Bewusstseinsstörung: Das Bewusstsein kann quantitativ (Verminderung) oder qualitativ (Trübung, Einengung, Verschiebung) beeinträchtigt sein, in jedem Fall steckt eine akute Funktionsstörung des Gehirns dahinter – mit vielfältigen Ursachen. Weitere Symptome wie Fieber, Schmerzen, neurologische Aufälligkeiten oder vegetative Zeichen helfen, die Ursache zu ermitteln.

Angst: Angst gehört zu vielen psychiatrischen und auch organischen Krankheitsbildern (z. B. COPD, Herzinsuffizienz). Bei Depressionen zeigt sie sich vor allem durch psychomotorische Unruhe oder Sorge, schwer krank zu sein, es überwiegen niedergedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit und Schlaflosigkeit. Im Rahmen von psychotischen Leiden verbirgt sich die Angst eventuell hinter feindseligem und misstrauischem Auftreten. Beim Substanzabusus kann Angst auf einen beginnenden Entzug oder die Wirkung der Drogen hindeuten. Auch Demenz und Delir gehen vielfach mit Angst einher. Nicht zuletzt gibt es natürlich noch die grosse Gruppe der Angsterkrankungen.

Mutismus: Das grosse – nicht willentliche – Schweigen gehört zu den Antriebsstörungen. Es kann in Akut- oder Subakutphase fast aller psychiatrischer Krankheitsbilder vorkommen.

Viele mögliche Ursachen für Erregungszustände

Stupor: Dieser Zustand deutlich verringerter oder aufgehobener psychomotorischer Aktivität quält die Patienten selbst sehr. Sie nehmen ihre Umgebung besonders sensibel wahr, sind aber nicht fähig, sich zu beteiligen. Das Symptom findet sich vor allem bei Depression und Schizophrenie.

Dissoziation: Integrative Funktionen von Gedächtnis, Bewusstsein, Wahrnehmung und Identität sind unterbrochen, die Betroffenen können Erinnerungen und Empfindungen nicht mehr bewusst und selektiv kontrollieren. Ursächlich liegt meist eine Persönlichkeitsstörung (z. B. Borderline) vor oder es handelt sich um die Folge eines Traumas.

Erregung: Bei der Erregung fällt es besonders schwer, zwischen Normvariante oder pathologischem Zustand zu differenzieren. Dr. Neu rät, im medizinischen Setting bis zum Beweis des Gegenteils immer von einem Krankheitszeichen auszugehen. Zu den wesentlichen Auslösern gehören Delir, Intoxikation, Schizophrenie, Manie oder Persönlichkeitsstörung. Wichtig bei diesen Patienten: Bleiben Sie selbst ruhig! Je sicherer der Patient sich in Ihrer Gegenwart fühlt, umso eher kann er Ihnen etwas über seine Beschwerden mitteilen.

Neu P.
Der Nervenarzt 2015; 86: 1091–1096.


Auslöser von Orientierungsoder Bewusstseinsstörung

  • Delir
  • Intoxikation
  • Entzug abhängig machender Substanzen
  • epileptischer Anfall
  • Schädel-Hirn-Traumazentrale Raumforderung/Blutung/Ischämie
  • metabolische Störung
  • Meningitis/Enzephalitis

Bei der Bewusstseinsstörung gibt es noch die Differenzialdiagnose des Herz-Kreislauf-Versagens. Die Orientierungsstörung kann auch bei Demenz und Depression auftreten oder arzneimittelinduziert sein.