Die ärztliche Schweigepflicht hat Grenzen
BASEL – Was Ärztinnen und Ärzten in der Ausübung ihres Berufes anvertraut wird, unterliegt der Geheimhaltungspflicht. Nach dem Flugzeugabsturz mit 150 Toten, den ein psychisch stark angeschlagener Kopilot verursachte, wurden in Deutschland Forderungen nach einem weniger strengen Arztgeheimnis laut. Welche Rolle spielt das Arztgeheimnis aber überhaupt in der täglichen Praxis? Medical Tribune hat drei Hausärzte aus der Schweiz zu einem Gespräch über dieses facettenreiche Thema eingeladen. Dabei zeigte sich: Bei der Handhabung des Ärztegeheimnisses gibt es eine gewisse Grauzone. Und: In der Schweiz wird die ärztliche Schweigepflicht differenzierter gehandhabt als in Deutschland. Das bedeutet hierzulande eine Entlastung für die Ärzteschaft.
Angenommen, einer Ihrer Patienten wäre Pilot oder Lokomotivführer, und Sie vermuten eine hohe Suizidgefahr: Wie würden Sie heute in einem solchen Fall reagieren? So lautete die Eingangsfrage an Dr. Florian Suter, Dr. Beatrice Huth sowie Dr. Edy Riesen. Die drei Hausärzte aus der Region Basel diskutierten in einer Gesprächsrunde mit Medical Tribune über die Bedeutung der Schweigepflicht von Ärzten in der Schweiz, unter besonderer Berücksichtigung des tragischen Vorfalls in den französischen Alpen.
Das ärztliche Berufsgeheimnis, wie der gesetzliche Begriff heisst, ist in Artikel 321 des Strafgesetzbuches geregelt. Dem Arztgeheimnis kommt ein hoher Stellenwert zu. Patientinnen und Patienten sollen sich vorbehaltlos ihrem Arzt oder ihrer Ärztin anvertrauen können, ohne Angst haben zu müssen, dass Informationen weitergegeben werden.
Die drei Gesprächsteilnehmenden sind sich einig, dass es sich beim Kopiloten nicht um einen Depressiven handelte, wie er in Arztpraxen gewöhnlich auftritt. Dr. Riesen spricht von einem Doppelspiel: «Er machte eine gute Falle nach aussen.» Die von ihm gezeigten privaten Bilder aus der Vergangenheit hätten nicht auf eine auffällige psychische Störung hingedeutet. Wenn ein äusserlich gesehen gesunder Mensch zwischen verschiedenen Zuständen schwanke, sei das für einen Arzt schwierig zu erkennen.
Ein Bündnis mit dem Patienten eingehen
Als Hausarzt habe er depressive Menschen immer direkt auf ihr Problem angesprochen und mit ihnen eine Art Bündnis vereinbart, fasst der kürzlich in den Ruhestand getretene Florian Suter sein Vorgehen zusammen. Nach dem Motto: «Ich lasse Sie jetzt gehen, aber Sie müssen mir versprechen, dass …» Florian Suter räumt ein: Nach dem Vorfall in Deutschland würde er heute einen derartigen Fall eines depressiven Piloten oder von jemand anderem, der eine grosse Verantwortung trägt, mit dem Kantonsarzt besprechen. Das Flugzeugdrama habe in ihm schon etwas ausgelöst, ihn stärker sensibilisiert.
Bei Beatrice Huth hat kein eigentlicher Meinungsumschwung seit dem Flugzeugunglück stattgefunden. Man müsse einen depressiven Patienten immer eng begleiten, mit ihm oder ihr das Gespräch suchen. «Ein Fall ist für mich auch nicht abgeschlossen, wenn ich einen Patienten als arbeitsunfähig beurteile.» Wenn man jemanden längere Zeit kenne und betreue, sei es meistens möglich, selbst kleine Veränderungen zu erkennen und adäquat zu reagieren. Eine grössere Unsicherheitskomponente bestehe bei neu eintretenden Patienten. Sie erkundige sich bei diesen auch immer nach dem Grund des Arztwechsels.
Aufhebung der Schweigepflicht
Die Gesprächspartner heben hervor, dass das Thema ärztliche Schweigepflicht in der Schweiz besser geregelt ist als in Deutschland mit seiner sehr strikten Handhabung. In Deutschland liege die ganze Verantwortung beim Arzt. In der Schweiz habe ein Arzt dagegen die Möglichkeit, sich einer staatlichen Aufsichtsbehörde (in der Regel Kantonsarzt) anzuvertrauen, ohne dass er die ärztliche Schweigepflicht verletze und dafür strafrechtlich belangt werde. Es liegt dann im Ermessen der Behörden, ob sie das Arztgeheimnis aufheben. Dieses Vorgehen entlaste die Ärzte. Von der Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem Kantonsarzt haben die drei – manchmal schweren Herzens – schon hie und da Gebrauch gemacht.
Edy Riesen erzählt die Geschichte eines mit ihm befreundeten Lehrers, den er wegen einer ernsthaften, aber weitgehend verdeckten psychischen Störung als nicht mehr berufsfähig erachtete und diesen Eindruck dem Kantonsarzt mitteilte. Das sei eine der schwierigsten Entscheidungen in seinem langen Berufsleben gewesen.
Florian Suter schildert den Fall eines älteren Ehepaares. Die Frau sei massiv dement gewesen, ihr Mann ein «auffälliger» Diabetiker, der entweder zu viel oder zu wenig Insulin gespritzt habe. Eine Gefährdungsmeldung an die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) sei vom Schwiegersohn beanstandet worden. Er habe die ärztliche Schweigepflicht verletzt, wurde dem Arzt vorgeworfen. Vielleicht nicht einmal zu Unrecht. Eine Entbindung vom Arztgeheimnis durch den Kantonsarzt hätte allerdings drei bis vier Monate in Anspruch genommen, erklärt Dr. Suter. Das Arztgeheimnis verletzen oder nichts unternehmen? Vor diese Frage gestellt, habe er sich für die erste Option entschieden.
Die Entbindung durch eine staatliche Aufsichtsbehörde ist nur eine von insgesamt vier Möglichkeiten, um von der ärztlichen Schweigepflicht befreit zu werden. Nicht uneingeschränkt gilt das Arztgeheimnis ebenso im Rahmen des Strafrechts, des Strassenverkehrsgesetzes sowie bei Epidemiegesetzen. Ausnahmebestimmungen sind in Bundes- oder kantonalen Gesetzen geregelt. Teilweise besteht sogar eine Meldepflicht des Arztes, so etwa bei gravierenden Verletzungen durch Hundebisse oder bei übertragbaren Krankheiten. Dass eine dem Berufsgeheimnis unterstehende Information weitergegeben werden darf, ist zudem in einer akuten Notstandssituation möglich (Art. 17f und 48a des Strafgesetzbuches). Über eine vermutete Gefahr oder Bedrohung zu berichten, stellt die Ärzteschaft allerdings oft vor eine heikle Güterabwägung.
Weitaus am häufigsten kommt es allerdings vor, dass die Patienten selbst ihre Einwilligung zur Aufhebung der Schweigepflicht gäben, lautet die Erfahrung der drei Hausärzte. In einem Leitfaden für die Praxis erteilt die FMH der Ärzteschaft den Ratschlag, die Patienten routinemässig zu fragen, welche ihrer Angehörigen man ggf. über ihren Gesundheitszustand informieren darf und soll. Ein gesetzliches Informationsrecht über gesundheitliche Fragen haben die Eltern urteilsunfähiger Kinder.
Entscheidungen in Grauzonen treffen
Dank rechtzeitiger Vorkehrungen liessen sich Probleme mit dem Arztgeheimnis vermeiden, mit denen die drei Gesprächspartner auch schon zu kämpfen hatten: Wie soll beispielsweise mit Ehepaaren umgegangen werde, wenn der eine Partner vom Arzt Informationen über den gesundheitlichen Zustand des anderen verlangt? Hier gerate man mit dem Arztgeheimnis schnell einmal in eine Grauzone. Edy Riesen vertritt die Meinung, dass in solchen Fällen differenziert werden sollte zwischen Ehepaaren und solchen, die z. B. in Trennung lebten. Im ersten Fall habe er keine grosse Mühe, dem Informationswunsch Rechnung zu tragen, im zweiten Fall würde er eher ablehnend reagieren. Und was darf, soll oder muss der Arzt der Spitex oder eben der Kesb melden? Das sei oft eine Gratwanderung. Oder wie geht man als Arzt oder Ärztin um, wenn bei einer Patientin sichtbare Gewaltspuren entdeckt werden, diese aber den Täter nicht verraten will? «Ich halte mich strikt an die ärztliche Schweigepflicht. Ich kann die Frauen nur ermuntern, Anzeige zu erstatten», sagt Beatrice Huth. «Und ich gebe den Opfern Karten von der Opferhilfestelle und vom Frauenhaus.»
Ein nochmals anderes Thema ist die Schweigepflicht der Ärzte untereinander sowie gegenüber den eigenen engsten Angehörigen. Darf man als Arzt oder Ärztin mit dem Partner über einen Fall sprechen? Die Anonymität von Patienten werde zwar auch in ärztlichen Netzwerken grossgeschrieben. Dass aber eine gewisse Durchlässigkeit von Informationen schwer zu vermeiden ist, je mehr Leute einen Fall kennen, wird von den Gesprächspartnern nicht abgestritten.
Die ärztliche Schweigepflicht kann zu unangenehmen Situationen führen. Sie kommt den Ärzten aber manchmal auch sehr entgegen, z. B. wenn sich ein Arbeitgeber beim Arzt telefonisch über einen Angestellten erkundigt. «Die Verteidigung des Arztgeheimnisses setzt dann sehr früh ein», sagt Beatrice Huth. Zeugnisse über eine allfällige Arbeitsunfähigkeit müssen zwar der Wahrheit entsprechen. Aber: «Ein Arbeitgeber hat keinen Anspruch darauf, eine Diagnose zu erfahren.»
Markus Sutter
Foto von links nach rechts: Dr. Beatrice Huth, Basel, Dr. Florian Suter, Basel, Dr. Edy Riesen, Ziefen, diskutieren mit Medical Tribune über die Grenzen des Arztgeheimnisses.