Betablocker doch kein Massenmord?
Medizin oder Massenmord, lautete Anfang 2014 eine provokative Schlagzeile zum Thema der perioperativen Betablockade: Eine ESC-Leitlinie wurde angeschuldigt, 800 000 Todesopfer in Europa gefordert zu haben. Die Experten der Fachgesellschaft haben nun Stellung dazu genommen.
Hier noch einmal kurz die Ereignisse, die zur erregten Betablocker-Debatte führten: Die Empfehlung der ESC aus dem Jahr 2009, Herzpatienten im Rahmen einer nicht kardialen Operation mit Betablockern zu behandeln, stützten sich im wesentlichen auf das Studienprogramm DECREASE**.
Dieses hatte ergeben, dass Patienten von der myokardialen "Stressabschirmung" klar profitieren – mit Reduktion harter Endpunkte wie Infarkt und Herz-Kreislauf-Mortalität. In einer anderen Studie, POISE1, konnte der Benefit hingegen nicht bestätigt werden.
Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen
Dennoch gab die Leitlinie Klasse-I-Empfehlungen für die perioperative Therapie mit Betablockern bei: Patienten mit KHK oder Ischämien im Belastungs-EKG, Patienten, denen ein Hochrisiko-Eingriff bevorsteht und Patienten, die bereits Betablocker einnehmen (Therapie fortsetzen, so die Empfehlung).
Mindestens eine Woche vor dem Eingriff sollte die Behandlung starten, als "Ziel-Herzfrequenz" gaben die Experten 60–70/Minute an. Doch dann galten die positiven Daten plötzlich nicht mehr: Der niederländische DECREASE-Erstautor war in Verdacht geraten, Daten manipuliert zu haben, und vom Erasmus Medical Center in Rotterdam 2011 deswegen entlassen worden, wie Professor Dr. Christian Funck-Brentano von der Pitié-Sâlpetrière in Paris berichtete.
DECREASE-Studie gefälscht? Leiter gekündigt.
Im Jahr 2013 erschien eine Metaanalyse2 aus den verfügbaren randomisierten, kontrollierten Studien zu diesem Thema – unter Ausschluss der DECREASE-Daten. Das Resultat: Die perioperative Betablockade steigert die 30-Tage-Mortalität nach einer nicht kardialen Operation signifikant um 27 %. Und darauf bezog sich die "Massenmord-Schlagzeile".
Weshalb die ESC den Betablockern dennoch keine komplette Absage erteilte, sondern nur die Klasse I-Empfehlungen zurücknahm, erläuterte Prof. Funck-Brentano wie folgt: Zu den negativen Resultaten der Metaanalyse von 2013, die sich auf rund 10 000 Patienten bezog, steuerte die POISE-Studie den Löwenanteil (weit über 8000 Patienten) bei.
Beta-Blocker nicht mehr Goldstandard, aber doch berechtigt
Die Metaanalyse gab also im Wesentlichen die Resultate der POISE-Studie wieder. Die ESC-Experten nahmen deshalb das gesamte Wissen zur perioperativen Betablockertherapie noch einmal genau in Augenschein. Bereits Studien aus den 1990er Jahren beschäftigten sich mit dem Thema und zeigten einen Benefit z.B. für Atenolol und Bisoprolol bei kardialen Risikopatienten, holte der Referent aus.
Bei der Bewertung der 2008 publizierten, placebokontrollierten Studie POISE gelte es nun mehrere Dinge zu bedenken: So wirken einzelne Betablocker sehr unterschiedlich und klinische Daten sprechen dafür, dass z.B. Atenolol im perioperativen Umfeld sicherer ist als Metoprolol.
Zudem würde man Metoprolol nicht in der Art und Weise geben wie in der POISE-Studie. Man habe den Betablocker viel zu kurzfristig vor der Operation eingesetzt und zu schnell aufdosiert, sodass starke Bradykardien und Hypotonien vermutlich zur erhöhten Mortalität geführt haben.
Risikopatienten profitieren, Herzgesunde erleiden Schaden
"Auch die 2009er Leitlinien rieten nicht zur Gabe von Betablockern in hoher Dosis, beginnend wenige Stunden vor dem Eingriff", erinnerte Prof. Funck-Brentano.
Eine weitere Überlegung des Leitlinien-Komitees bezieht sich darauf, dass der protektive Effekt einer perioperativen Betablockertherapie vom individuellen Grundrisiko abhängt. Während bei Herzgesunden offenbar negative Effekte überwiegen, scheinen Risikopatienten einen Nutzen zu ziehen – je schwerer die Herzerkrankung ist, umso mehr.
Dafür sprechen auch die Ergebnisse einer neuen grossen dänischen Kohorten-Studie3. Diese belegte einen protektiven Effekt für Patienten, die kurze Zeit vorher einen Herzinfarkt überstanden hatten.
Die aktuellen Perioperativ-Empfehlungen lauten nun: Betablocker nutzen bei Patienten, die ohnehin Betablocker einnehmen (nicht absetzen) - Klasse I. Betablocker eventuell neu ansetzen bei Hochrisikopatienten (≥ 2 Risikofaktoren, Hochrisiko-Eingriffe) - Klasse IIb. Betablocker evtl. neu ansetzen bei bekannter KHK - Klasse IIb.
Die Dosis soll titriert werden und die Therapie mindestens eine Woche (bis zu 30 Tage) vor der Operation begonnen. Ziel sind eine Herzfrequenz von 60–70/Minute und ein systolischer Blutdruckwert über 100 mmHg.
Quelle:
*European Society of Cardiology
**Dutch Echocardiographic Cardiac Risk Evaluation Applying Stress Echocardiography
1. P.J. Devereaux et al., Lancet; 371: 1839-1847 (Effects of extended-release metoprolol succinate in patients undergoing non-cardiac surgery)
2. S. Bouri et al., Heart 2014; 100: 456-464
3. Charlotte Andersson et al., JAMA Intern Med 2014; 174: 336-344