Medical Tribune
2. Dez. 2012Adipositas-Paradox

Warum leben übergewichtige Koronar-Patienten länger?

Gibt es endlich Klarheit beim Thema Übergewicht-Paradox? Die Frage, warum dicke Menschen mitunter Überlebensvorteile haben, regt die Forschung an. nach neuen Daten wirkt sich Adipositas sogar bei koronarer Herzkrankheit positiv aus.

Akutes Koronarsyndrom: Höhere Mortalität bei niedrigen BMI-Werten

Schwedische Gesundheitsforscher rekrutierten zur Untersuchung des Adipositas-Paradox ein Kollektiv von fast 65 000 Patienten aus dem nationalen Angiographie- und Angioplastieregister1. Alle waren wegen eines akuten Koronarsyndroms in die Klinik eingeliefert worden und bei 84,4 % (rund 55 000 Patienten) diagnostizierte man angiographisch eine signifikante Koronarstenose. Für die Auswertung wurden die Teilnehmer anhand des BMI in neun Gruppen eingeteilt. Als primären Endpunkt wählte man die Gesamtsterblichkeit.

Nach einer mittleren Beobachtungszeit von 21 Monaten fiel das Mortalitätsrisiko in der Gruppe der Studienteilnehmer mit dem geringsten Gewicht (BMI bis < 18,5 kg/m2 ) gegenüber der "Normal-Referenzgruppe" (BMI 21 bis < 23,5 kg/m2) am höchsten aus. Die niedrigste Mortalität wiesen mässig Übergewichtige (BMI 26,5 bis < 28 kg/m2) auf. Betrachtete man bei Patienten mit signifikanter Koronarstenose den BMI als kontinuierliche Variable, zeigte sich, dass die Mortalität bis zu einem Wert von 35 kg/m2 abnahm und ab diesem Schwellenwert wieder anstieg.

Adipositas gepaart mit guter körperlicher Fitness ist protektiv

Die vorliegenden Daten, so folgern die schwedischen Kollegen, stützen das Konzept vom Adipositas-Paradox.  Darf man das einfach so stehen lassen, fragten sich kardiologische Kachexieforscher um Professor Dr. Stefan Anker von der Charité Berlin. Immer noch herrsche in der akademischen Welt grosse Verwirrung zum "Fluch oder Segen" des Übergewichts, schreiben Dr. Stephan von Haehling und Kollegen in ihrem Kommentar2 zu der schwedischen Studie.

Die vorherrschende Meinung lautet – auch in der Bevölkerung – nach wie vor: "Übergewicht macht krank und bringt dich um." Dieses Dogma vom gesunden Schlanksein wurde erstmals im Jahr 1999 erschüttert, als Nephrologen in einem Kollektiv von Dialyse-Patienten Überlebensvorteile für die Beleibteren fanden. Seither haben Wissenschaftler diesen Ansatz bei vielen Krankheiten, darunter COPD, Diabetes, Schlaganfall, Krebs und Herzkrankheiten untersucht.

Fit, korpulent und gesund

In einer Studie an über 43 000 Erwachsenen ermittelten Forscher aus Stockholm besonders günstige Voraussetzungen für ein langes Leben: Adipositas gepaart mit einem gesunden Stoffwechsel (keine Zeichen des metabolischen Syndroms) und guter körperlicher Fitness ging mit der geringsten Mortalität im Beobachtungszeitraum einher. Metabolisch kranke Adipöse hatten eine deutlich schlechtere Prognose und schlanke Stoffwechselgesunde schnitten nicht besser ab. Definitionsgemäss besteht Übergewicht bei einem BMI von 25–30 kg/m2 und Adipositas bei Werten über 30 kg/m2.

Diese Studien legen nahe, dass man eine chronische Krankheit haben muss, um vom Adipositas-Paradox zu profitieren, so die Berliner Kollegen. Und das meist ermittelte BMI-Optimum von 25–35 kg/m2 könne auch als Übergewicht-Paradox bezeichnet werden – also nicht in die Kategorie Adipositas fallen (BMI > 30 kg/m2).

Kranke mit BMI < 40 dürfen dick bleiben

Auf keinen Fall, betonen die Kollegen, sei es statthaft, die Daten auf Gesunde zu übertragen. Anhand aller vorhandenen Studien lassen sich nur wenige vorsichtige Schlussfolgerungen ziehen, so Dr. von Haehling. Chronisch kranke Patienten mit einem BMI < 40 kg/m2 solle man nicht mit Gewichtsreduktion quälen – keine einzige Studie habe bisher gezeigt, dass Abspeck-Diäten in solchen Fällen prognostische Vorteile hätten.

Fettgewebe habe z.T. sogar protektive Effekte, nicht zuletzt könne es Hüftfrakturen verhindern. Besonders vorteilhaft, so hat eine andere Studie ergeben (s. Kasten), wirkt Übergewicht in Kombination mit einer gesunden metabolischen Funktion.

Quelle:

1. Oskar Angerås et al., Eur Heart J 2012; online first;

2. Stephan von Haehling et al., a.a.O.