Medical Tribune
13. Apr. 2023«Will man Eltern gut beraten, muss man korrekt aufklären»

Plötzlicher Kindstod: Ist das Elternbett nun gefährlich oder nicht?

Der deutsche Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster betrachtet den plötzlichen Kindstod von einer anderen Seite: Nämlich, was Eltern richtig machen können. Seine wichtigste Botschaft ist: Stillen, in der Schwangerschaft nicht rauchen und das Elternbett differenziert betrachten.

Das Risiko für den plötzlichen Kindstod ist unter normalen Umständen im Elternbett nicht erhöht.
Prostock-Studio/gettyimages

Die häufigste Ursache für das Versterben von Säuglingen jenseits der Neugeborenzeit sei der plötzliche Kindstod (engl. sudden infant death syndrome, SIDS), hört man oft. «Absolut gesehen ist so ein Vorfall aber sehr, sehr selten», erinnert Dr. Herbert Renz-Polster, Kinderarzt und assoziierter Wissenschaftler am Zentrum für Präventivmedizin und Digitale Gesundheit der Universität Heidelberg.

Selten bedeutet in dem Kontext, dass in der Schweiz im Jahr 2020 drei Jungen und zwei Mädchen im Zusammenhang mit dem SIDS verstarben (1). Im gleichen Zeitraum verloren aber auch 14 Schweizer etwa das Leben durch einen – doch als seltenes Unglück angesehenen – Lawinenunfall.

«Dort, wo die Furcht besonders gross ist, ist das Risiko oft minimal»

Dabei kommen die Kinder, die am plötzlichen Kindstod versterben, meist aus einem «typischen» Risiko-Umfeld, berichtet Dr. Renz-Polster: «Insgesamt ist wohl kaum ein Kind durch SIDS verstorben, bei dem nicht vorab schon eines der ‹grossen› Risiken vorlag.»

Zu diesen gehört das Rauchen in der Schwangerschaft, Leben in einer sozialen Randlage, reine Kunstmilchernährung, und das Schlafen unter unsicheren Bedingungen. Unter letzterem versteht man das Schlafen in Bauchlage oder auf einem untauglichen Untergrund wie einem Sofa, in dem das Baby einsinken kann, oder mit schweren Decken oder Kissen, von denen es begraben werden kann.

Weniger klar lässt sich dagegen das Risiko dingfest machen, das vom «Co-Sleeping» oder «Bedsharing», also vom Schlafen der Kinder im Elternbett, ausgeht. Anfänglich zeigten mehrere Untersuchungen, dass das Risiko für den plötzlichen Kindstod erhöht schien, wenn Kinder mit anderen Personen im selben Bett schliefen. Viele pädiatrische Gesellschaften lehnen daher noch heute das Schlafen von Neugeborenen im Elternbett ab.

Schlafen im Elternbett, gefährlich oder nicht?

«Zu Unrecht», ist sich Dr. Renz-Polster sicher, «die früheren Daten sind sehr lückenhaft». So zeigte die bisher methodisch robusteste Studie zum Co-Sleeping, dass der Faktor Elternbett für das SIDS-Risiko nur unter bestimmten Umständen relevant ist (2). «Schloss man alle Fälle aus, bei dem Kinder nicht unter gefährlichen Bedingungen schliefen, nivellierte sich das Risiko heraus.» Schliefen die Kinder also nicht auf dem Sofa, und hatte die Mutter während der Schwangerschaft nicht geraucht, oder vor dem Zubettgehen mehr als zwei Einheiten Alkohol (z.B. 2 Gläser Wein oder Bier) getrunken, belief sich das Risiko durch das Co-Sleeping praktisch auf null.

Oft hatten die Kinder, die im "Bedsharing"-Kontext an einem plötzlichen Kindstod verstarben, auch mit Menschen das Bett geteilt, die keine Eltern oder nahen Bezugspersonen waren. Und verdächtig häufig waren unter den am SIDS verstorbenen Babys auch Säuglinge, die «nur einmal, als Ausnahme» im Elternbett geschlafen hatten – etwa aufgrund eines leichten Infektes. «Diese Fälle haben aber mit den ‹normalen› Bedingungen, unter denen Eltern regelmässig ihre Kinder mit ins Bett nehmen, nichts zu tun», meint Dr. Renz-Polster.

Unter normalen Bedingungen harmlos

Kinderärzten würde er daher keinesfalls empfehlen, komplett vom Elternbett abzuraten: «Will man die Eltern korrekt informieren, muss man ihnen eine differenziertere Erklärung zumuten.» Dann, so der Experte, müsse man nämlich auch sagen, dass das Co-Sleeping unter den meisten Bedingungen eigentlich nicht gefährlich ist.

Die Schweizer SIDS-Richtlinien (3), die eine Elternberatung mit Aufschlüsselung der Risikofaktoren vorsehen, gehen dabei laut Dr. Renz-Polster bereits in die richtige Richtung.

Schlafen im Elternbett hat auch Vorteile

Eine pauschale Empfehlung gegen das Elternbett sei dagegen in einigen Fällen vielleicht sogar kontraproduktiv, meint der Experte. Denn das gemeinsame Schlafen von Säuglingen mit ihren Eltern hat nachweislich auch Vorteile. Dazu gehört, dass Mütter, die in enger Nähe mit ihren Kindern schlafen, diese in der Nacht häufiger, länger, und problemloser stillen (4,5). Und das Stillen ist in den verfügbaren Fall-Kontroll-Studien einer der stärksten SIDS-protektiven Faktoren, der das Risiko je nach Studie um den Faktor zwei bis fünf minderte.

Auch, wenn Kinder und Eltern von Anfang an getrennt schlafen, kann das in Anlassfällen ein Risiko bedeuten: «Es gibt dokumentierte SIDS-Fälle, in denen Mütter mit ihren Kindern zum Stillen aufs Sofa gingen und dort einschliefen», berichtet Dr. Renz-Polster. Und schlafen Kinder getrennt von den Eltern im eigenen Zimmer, ist das einer der bisher eindeutigsten SIDS-Risikofaktoren. Eine aktuelle Fall-Kontroll-Studie (6) attestiert dieser Konstellation etwa eine Erhöhung des SIDS-Risikos um das bis zu Achtfache.

«Gesunde Kinder sind gut gerüstet für die normalen Probleme im Leben»

«Neben den bekannten Risiken», so Dr. Renz-Polster, «darf man nicht vergessen, dass der plötzliche Kindstod praktisch nie in Familien vorkommt, die ein paar Dinge richtig machen». In einer (noch nicht veröffentlichten) Übersichtsarbeit beschäftigt sich der Experte gemeinsam mit Kinderärzten und SIDS-Forschern mit erworbenen Faktoren, die Neugeborene vor dem plötzlichen Kindstod schützen.

Auffällig war dabei anfänglich für das Autorenteam, dass Babys direkt nach der Geburt das geringste Risiko für den plötzlichen Kindstod haben: Über 85 Prozent der SIDS-Betroffenen sterben im Alter von zwei bis fünf Monaten. «Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass Babys anfänglich noch starke Schutzreflexe haben, die sich aber schnell abbauen – vergleichbar etwa mit dem Gehreflex, der bei allen Kindern bei Geburt vorhanden ist, und der sich danach rasch zurückbildet.»

Der plötzliche Kindstod betrifft dann möglicherweise Kinder, denen es nicht gelingt, sich ein selbst organisiertes Schutzverhalten zuzulegen, eine Vermutung, der auch frühere Säuglingsforscher schon nachgingen (7). «Diese Fähigkeiten trainieren gesunde Kinder im normalen Alltag», ist Dr. Renz-Polster überzeugt. «Beim Stillen beispielsweise müssen sich die Säuglinge auch damit auseinandersetzen, wie sie auf Atemwegsobstruktionen reagieren, vielleicht erklärt dies den starken Schutzeffekt des Stillens. Ähnliches könnte für das Tragen gelten. Auf jeden Fall dürfte es für die Forschung fruchtbar sein, SIDS stärker aus der Schutz-Perspektive zu betrachten.»