Medical Tribune
25. Okt. 2017Entwicklungsstörung bei Kinder

Ein Tollpatsch fürs Leben

Als Dyspraxie bezeichnet man eine umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen. Häufiger trifft es Jungen als Mädchen, und auch Frühgeborene mit extrem niedrigem Geburtsgewicht haben ein erhöhtes Risiko. Die Ätiologie der Dyspraxie ist nach wie vor nicht bekannt, schreiben Dr. Pia Lammel und Professor Dr. Michael Schulte-Markwort von der Kinder- und Jugendpsychosomatik am Altonaer Kinderkrankenhaus Hamburg.

Obwohl das ADHS als Komorbidität bei jedem zweiten Kind hinzukommt, geht man davon aus, dass die Dyspraxie eine eigenständige Störung darstellt. Zu den weiteren Komorbiditäten gehören Störungen der Sprachentwicklung, des Lesens und Schreibens sowie Autismus-Spektrum-Störungen. Die Betroffenen weisen in grob- oder feinmotorischen Funktionen einen erheblichen Rückstand auf, die sich nicht ausschliesslich durch Intelligenzminderung, spezifische neurologische oder Verhaltensstörungen erklären lassen.

Erkrankung bleibt im Erwachsenenalter bestehen

Im Alltag haben die Kinder Schwierigkeiten, Socken und Schuhe anzuziehen, Schuhbänder zu binden oder Knöpfe und Reisverschlüsse zu öffnen bzw. zu schliessen. Diese Handgriffe funktionieren entweder gar nicht oder nur mit viel Geduld. Oft sind die Kleinen auch sehr ungeschickt im Hantieren mit Besteck oder beim Zähne putzen. In der Schule fallen sie durch eine langsame und/oder unsaubere Handschrift auf, sie gehen tollpatschig mit Schere, Klebstoff und Spitzern um, sodass Bastelarbeiten misslingen. Im Sportunterricht können sie nicht mit anderen mithalten und haben Probleme beim Balancieren, Klettern, Fahrradfahren sowie Fangen, Werfen oder Schiessen von Bällen. Generell fällt ein seltsam ungeschickter Gang auf. Die Defizite unterscheiden sich individuell und haben erhebliche negative Konsequenzen für das tägliche Leben der Kinder und ihrer Familien sowie der psychosozialen und schulischen Entwicklung. Potenziell resultieren daraus depressive Syndrome und Angststörungen. Die Erkrankung heilt nicht aus, die Hälfte der Betroffenen nimmt die Schwierigkeiten mit ins Erwachsenenalter.

Besonders schlecht ist die psychosoziale Prognose für Kinder, die ebenfalls unter ADHS leiden: Sie entwickeln häufiger antisoziale Persönlichkeitsstörungen, landen in der Alkoholsucht und/oder Kriminalität und erreichen einen geringen Bildungsstand.

Die Diagnose erfolgt mittels eingehender Anamnese inklusive Fragen zu den Meilensteinen der frühkindlichen Entwicklung. Unterstützung bietet der Elternfragebogen Developmental Coordination Disorder Questionnaire – German (DCDQ-G­). Auch ausserfamiliäre Betreuer von z. B. Kindergarten oder Schule sollte man für die Anamnese befragen. Unerlässlich, um die Diagnose zu sichern und andere Grunderkrankungen auszuschliessen, sind eine neuropädiatrische Untersuchung und ein standardisierter Motoriktest, z. B. Movement Assessment Battery for Children 2 (M-ABC-2­). Sicher gestellt werden kann die Diagnose nicht vor einem Alter von fünf Jahren.

Im Fokus der Therapie stehen neben motorischen Defiziten Interaktionen mit dem sozialen Umfeld. Denn von diesen hängt der Leidensdruck entscheidend ab. Eine Psychoedukation von Eltern und Erziehern zielt darauf ab, dass sie das Kind positiv unterstützen und Verständnis für die spezifischen Schwierigkeiten entwickeln. Gruppentherapeutische Sitzungen sollen das Selbstwertgefühl der Kleinen stärken und einen besseren Umgang mit den individuellen Alltagsschwierigkeiten beibringen. Haben die Kinder bereits Depressionen, Ängste oder Verhaltensauffälligkeiten entwickelt, ist eine Psychotherapie indiziert.

Prozess- und aufgabenorien­tier­tes Behandlungskonzept

Um die motorischen Defizite zu bessern, gibt es ein prozess- und ein aufgabenorientiertes Behandlungskonzept. Das erste zielt darauf ab, Funktionen wie Wahrnehmung, sensorische Integration, Muskelkraft und Visomotorik zu trainieren, damit das Kind die motorischen Handgriffe besser umsetzen kann. Zum Einsatz kommen z. B. sensorische Integrationstherapie, kinästhetisches Training oder perzeptives Motoriktraining. Im aufgabenorientierten Behandlungskonzept werden motorische Aktionen analysiert und Faktoren, die das Ergebnis beeinflussen, identifiziert. Daraus abgeleitete Bewältigungsstrategien helfen den Betroffenen, motorische Aufgaben besser umsetzen. Die funktionalen Fertigkeiten lassen sich direkt verbessern mit Verfahren wie Cognitive Orientation to Daily Occupational Performance, Motor Imagery Training oder Neuro Motor Task Training.

Kinder, die ebenfalls unter ADHS leiden, profitieren von Methylphenidat nicht nur hinsichtlich der ADHS-Kernsymptomatik, sondern auch in Bezug auf feinmotorische manuelle Geschicklichkeit, Balance- und Ballspielfertigkeiten.

Lammel P, Schulte-Markwort M. Monatsschr Kinder­heilkd 2017; 165: 490–494.