Medical Tribune
20. Sept. 2024Prävention und Individualisierung im Fokus

ESC 2024: Die neuen Hypertonie-Leitlinien in der Praxis

Auf dem Jahreskongress der European Society of Cardiology (ESC) wurden die neuen Leitlinien zur Behandlung von Bluthochdruck und erhöhtem Blutdruck vorgestellt. Im Zuge einer anschliessenden «Guidelines in Practice»-Session verdeutlichten Experten anhand von zwei Fallstudien die Herausforderungen und Ansätze der neuen Richtlinien.

Was bedeuten die neuen ESC-Hypertonie-Leitlinien in der Praxis?
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In einer Diskussions-Session am ESC verdeutlichten Experten im Zuge von zwei Fallbeispielen, was neuen Hypertonie-Leitlinien für den Alltag bedeuten.

Ein zentrales Thema der Hypertonie-Leitlinien der ESC 2024 ist die Betonung auf die kardiovaskuläre Risikobewertung, bevor eine Therapie in Betracht gezogen wird.

Professor Dr. Rosa Maria Bruno vom European Hospital Georges Pompidou Paris stellte dies im Zuge einer «Guidelines in Practice»-Session auf dem Jahreskongress der ESC (2) anhand eines Patientenfalls dar.

Lebensstilmanagement bei erhöhtem Blutdruck und Hypertonie: Fallvorstellung

Die 41-Jährige Patientin kam aufgrund einer früheren Präeklampsie zur kardiovaskulären Risikobewertung in die Klinik.

Die junge Frau war leicht übergewichtig (26 kg KG/m2), hatte nie geraucht und keine kardiovaskulären Ereignisse in der Familie.

Ihr zuhause gemessener Blutdruck lag im Schnitt bei 126/82 mmHg, im Arztzimmer wurde ein Blutdruck von 122/86 mmHg gemessen. Beide Werte fallen in die Kategorie «erhöhter Blutdruck» gemäss der neuen Klassifikation der ESC Hypertonie-Leitlinien 2024 .

Zweistufige Risikobewertung als Schlüssel zur Therapieentscheidung

Die neuen Leitlinien betonen, dass bei erhöhtem Blutdruck eine gründliche kardiovaskuläre Risikobewertung entscheidend ist, bevor Massnahmen in Betracht gezogen werden.

Bei der in den Leitlinien empfohlenen zweistufigen Risikobewertung gilt es zunächst, Faktoren auszuschliessen, die das Risiko automatisch auf ein hohes Niveau heben. Dazu gehören etwa bestehende Herzerkrankungen, Diabetes oder eine schwere chronische Nierenerkrankung.

Diese Erkrankungen lagen bei der Patientin nicht vor, was die weitere Analyse mittels des SCORE2-Risiko-Tools ermöglichte. Aufgrund ihrer normalen Werte bei Serum-LDL-Cholesterin, Nüchternglukose und Nierenfunktion bestätigte der Kalkulator der Frau ein sehr niedriges 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse.

Lebensstilmassnahmen als Eckpfeiler

«In diesem Fall – bei einer Patientin mit erhöhtem, aber noch nicht hypertensivem Blutdruck – ist es sehr wichtig, Lebensstiländerungen einzuführen, um den Blutdruck zu senken und eine Verschlechterung der Hypertonie zu vermeiden», sagte Referentin Prof. Bruno

Dazu zählen:

  • Natriumreduktion: Die ESC Hypertonie-Leitlinien 2024 empfehlen (Grad 1A), den Natriumkonsum auf maximal 2-4 Gramm pro Tag zu begrenzen. Besonders die Reduktion von stark verarbeiteten Lebensmitteln, die einen Grossteil des Salzkonsums ausmachen, sei dabei zentral.
  • Kaliumzufuhr: Eine der Neuerungen in den 2024-Leitlinien ist die Empfehlung (Grad 2A), den Kaliumkonsum zu erhöhen. Dies kann sich positiv auf das kardiovaskuläre Risiko auswirken. Kaliumreiche Lebensmittel wie manches Gemüse (z.B. Avocado, Karotten, Petersilie), Obst (z.B. Bananen) und Nüsse (z.B. Haselnüsse und Erdnüsse) sollten dabei bevorzugt werden. Vorsicht walten lassen sollte man bei Patienten mit (auch milder) CKD oder die Medikamente einnehmen, die den Kaliumspiegel erhöhen
  • Gesunde Ernährung: Empfohlen wird in den 2024 Leitlinien eine mediterrane oder DASH-Diät
  • Zuckerreduktion: Eine weitere neue Empfehlung (Grad 1B) zielt auf den Verzicht auf Einfachzucker, insbesondere in Form von zuckerhaltigen Getränken, um sowohl das kardiovaskuläre Risiko als auch das Körpergewicht zu kontrollieren.
  • Bewegung: Die körperliche Aktivität bleibt ein Schlüssel zur Blutdruckregulation. Neu in den Leitlinien ist die Empfehlung, neben Ausdauertraining auch Kraft- und isometrische Übungen, wie Planks oder Wall Sits, in die Routine einzubauen.
  • Alkoholreduktion: Limitierung der Einnahme auf weniger als 100 Gramm reinen Alkohol pro Woche.

Ausserdem sollte bei der Patientin zumindest einmal pro Jahr der Blutdruck kontrolliert und das kardiovaskuläre Risiko neu evaluiert werden. Nicht vergessen dürfe man, dass die vorangegangene Präeklampsie ein wesentlicher kardiovaskulärer Risikofaktor ist.

«Bei Älteren können manche Massnahmen kontraproduktiv sein»

Besonders hervorgehoben wurde in der anschliessenden Diskussion die Wichtigkeit einer individualisierten Herangehensweise bei Lebensstilmassnahmen.

Denn fraglich ist, ob dieselben Massnahmen bei einem älteren Patienten genauso umgesetzt werden hätten sollen. Denn bei jungen Patienten sei ein Fokus auf Gewichtsreduktion und intensivere Salzreduktion zwar sinnvoll. Bei älteren, gebrechlichen Patienten könnte dies hingegen zu Problemen führen, etwa durch das Risiko einer Mangelernährung.

Referentin Prof. Bruno hob hervor, dass die Zusammenarbeit mit einem Ernährungsspezialisten oder einem Physiotherapeuten sinnvoll sein kann.

Pharmakologisches Management von erhöhtem Blutdruck und Hypertonie: Fallvorstellung

Eine weitere Fallstudie, vorgestellt von Professor Dr. Sofie Brouwers, Olv Hospital Aalst, Belgien, illustrierte die Komplexität des medikamentösen Bluthochdruckmanagements in Hinblick auf die neuen Leitlinien.

Diese handelte von einer 67-jährigen Patientin mit vorangegangener transitorischer ischämischer Attacke (TIA). Trotz Einnahme von 10 mg Amlodipin, Aspirin und 20 mg Rosuvastatin blieben ihre Blutdruckwerte erhöht. Dies spiegelte sich in Messungen von 143/91 mmHg und 137/87 mmHg wieder. Hinzu kam eine Dyslipidämie mit einem LDL-Wert von 3,7 mmol/l und ein Prädiabetes mit einem HbA1c-Wert von 6,2%. Die restlichen Laborwerte waren normal.

Die Patientin berichtete ausserdem über geschwollene Beine, eine häufige Nebenwirkung bei einer Amlodipin-Dosis von 10 mg. Eine sorgfältige Abwägung der nächsten Therapieschritte war daher notwendig.

Weitere Risikobewertung und kontinuierliche Überwachung

«Neben der Blutdruckregulation muss stets das Gesamtrisiko des Patienten betrachtet werden, einschliesslich organischer Schäden durch Bluthochdruck oder weitere Risikofaktoren wie Diabetes mellitus oder Niereninsuffizienz», sagte Prof. Brouwers. In diesem Fall hatte die Patientin bereits eine TIA erlitten, was sie in eine höhere Risikogruppe für kardiovaskuläre Ereignisse einordnete.

Ihr wurde ein Echokardiogramm empfohlen, um mögliche strukturelle Herzveränderungen wie eine Vergrösserung des linken Vorhofs oder der Aorta zu untersuchen. Dies kann wertvolle Hinweise auf das Ausmass des organischen Schadens durch den Bluthochdruck liefern, so die Referentin.

Das bei der Patientin durchgeführte EKG war jedoch unauffällig.

Niedrigdosistherapie in Kombination

Die ESC Hypertonie-Leitlinien 2024 empfehlen in Fällen wie bei der 67-Jährigen eine kombinierte Niedrigdosistherapie in Form einer einzigen Tablette, um sowohl den Blutdruck effektiver zu senken als auch die Nebenwirkungen zu minimieren. Anstelle der Amlodipin-Monotherapie ist bei der Patientin etwa die gemeinsame Gabe von 5,5 mg Amlodipin mit einem ACE-Hemmer oder Diuretikum vorstellbar, so Prof. Brouwers.

«Die Leitlinien empfehlen nun ausserdem, den Patienten zu sagen, dass sie ihre Medikamente zu einem für sie bequemen Zeitpunkt einnehmen sollen. Nur wenn sie ihre Therapie nicht vergessen, kann sie wirken. »

Die Blutdruckziele wurden auf einen systolischen Wert von 120-129 mmHg und einen diastolischen Wert von 70-79 mmHg festgelegt, wobei die Toleranz der Patientin gegenüber der Therapie im Vordergrund stand.

Zusätzlich wurden auch dieser zweiten Patientin aufgrund ihres Risikoprofils Lebensstilinterventionen empfohlen, insbesondere Salz- und Alkoholkonsumreduktion, sowie regelmässige körperliche Aktivität.

«Neben der Blutdruckkontrolle auch Lebensstil regelmässig evaluieren»

Für die Patientin war die Umstellung auf eine Doppeltherapie erfolgreich, und sie konnte ihren Blutdruck langfristig stabilisieren. Sie hatte zwar Schwierigkeiten, regelmässige körperliche Aktivität in ihren Alltag zu integrieren. Dennoch erzielte sie Fortschritte bei der Reduktion ihres Alkoholkonsums und ihrer Salzaufnahme.

«Regelmässige Nachkontrollen sind essenziell, um die Therapie anzupassen und das Risiko weiterer kardiovaskulärer Ereignisse zu minimieren» erinnerte Prof. Brouwers. Um eine langfristige Kontrolle zu gewährleisten, wurde ein regelmässiges Follow-up vereinbart, bei dem neben den Blutdruckwerten auch die Lebensstiländerungen überprüft wurden.