Medical Tribune
23. Aug. 2023Lipidsenkung bei älteren Patienten auf dem Prüfstand

Statine bei Senioren absetzen oder lebenslang einnehmen?

Für die Wirksamkeit einer Statintherapie ab einem Alter von etwa 82 Jahren gibt es insbesondere in der Primärprävention wenig Evidenz. Zwei Expertinnen stellen Gründe für und gegen das Absetzen von Statinen vor.

Hände einer alten Person halten ein Blister mit Statin-Tabletten.
Science Photo Library/ CRISTINA PEDRAZZINI
Der Nutzen einer ­Statintherapie bei ­älteren Patienten steht in der Diskussion.

Im Alter stellt sich mit zunehmender Gebrechlichkeit, Polypharmazie und Multimorbidität sowie dem höheren Risiko von Medikamenteninteraktionen und Nebenwirkungen die Frage nach Nutzen bzw. Risiko einer Statintherapie, erklärt Dr. med. ­Luise Adam, Berner Institut für Hausarztmedizin.

Wenige Studiendaten ab 75

Die Datenlage ist dünn. Während Studien zur Primärprävention Personen bis ca. 70 Jahren einschlossen, gibt es wenige Daten ab 75 Jahren oder für multimorbide, polypharmazierte und gebrechliche Patienten.

Eine Ausnahme ist der PROSPER-Trial (1), in dem Patienten zwischen 70 und 82 Jahren randomisiert 40 mg Pravastatin oder Placebo über 3,2 Jahre erhielten. In der Sekundärprävention fielen die Endpunkte zugunsten des Statins aus, in der Primärprävention gab es keine klinischen Vorteile.

Ähnlich gelagert waren die Ergebnisse aus der ALLHAT-­LLT-Studie (2). Bei der Auswertung von 2.768 Patienten über 65 Jahren in der Primärprävention zeigte sich kein Benefit von Pravastatin gegenüber der üblichen Behandlung in puncto Mortalität und kardiovaskulärer Ereignisse. Die Metaanalyse der Cholesterol Treatment Trialists Collaboration (3) beobachtete ebenfalls keinen signifikanten Nutzen in der Primärprävention bei Personen ab 70 Jahren.

Auch Patienten über 90 Jahre können vom Statin profitieren

Die Leitlinien zur Sekundärprävention sehen derzeit einen Nutzen der Statintherapie auch für ältere Patienten mit höherem Risiko, jedoch mit geringerer Evidenz als bei jüngeren Personen und mit dem Hinweis, dass Nebenwirkungen und Interaktionen genau im Auge behalten werden sollten.

Die Leitlinien zur Primärprävention sind hingegen nicht ganz so einheitlich. So schreibt die USPSTF (US Preventive Services Taskforce), dass die aktuelle Evidenz nicht ausreicht, um Nutzen und Risiken des Beginns einer Statintherapie im Alter ab 76 Jahren gegeneinander abzuwiegen. Nach den ESC-Leitlinien kann der Start einer lipidsenkenden Therapie bei scheinbar gesunden Personen ab 70 Jahren und hohem kardiovaskulären Risiko in Erwägung gezogen werden (Evidenzgrad IIb). Gemäss AHA ist ein Absetzen in der Primärprävention bei älteren Personen z.B. mit Multimorbidität zu überlegen.

Dr. Adam wies darauf hin, dass in der Schweiz seit 2022 keine Rückerstattung der Statine mehr erfolgt, wenn eine erste Verschreibung zur Primärprävention mit über 75 Jahren erfolgt (BAG), ausser bei hohem oder sehr hohem kardiovaskulären Risiko.

Myopathiehäufigkeit in der Praxis beträgt 5–20 %

Bei älteren Patienten ist insbesondere auf die Nebenwirkungen zu achten. Die Muskelbeschwerden treten in randomisierten kontrollierten Studien bei fünf Prozent, in der Praxis sogar bei fünf bis 20 Prozent der Patienten auf und können mit oder ohne CK-Erhöhung vorkommen. Vor allem Muskelschmerzen ohne CK-Erhöhung interpretieren sowohl Ärzte als auch Patienten häufig als Alterserscheinung. Die metabolischen Nebenwirkungen wie schlechtere Blutzuckerkontrolle oder Diabetes sind weniger stark zu gewichten als der Nutzen der Statine.

Ob sich die Lipidsenker ungünstig auf die Kog­nition auswirken, ist nicht belegt. Bisherige Metaanalysen konnten keinen definitiven Zusammenhang finden. Die US-amerikanische FDA hat jedoch aufgrund einzelner Fallberichte einen Warnhinweis ausgegeben.

Als weitere Nebenwirkungen sind Stürze, gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Er-
brechen, Verstopfung sowie funktionelle Einschränkungen im Alltag durch Myopathie beschrieben.

Nach Therapie-Stopp Lebensqualität verbessert

Sollte man das Statin im Alter auch bei guter Verträglichkeit stoppen? Dafür kann es mehrere Gründe geben, so Dr. Adam. Wie eine Studie zeigt, kann das Absetzen der Statine zu einer besseren Lebensqualität führen (4). Die Teilnehmer hatten eine Lebenserwartung von unter einem Jahr, erhielten Statine zur Primär- oder Sekundärprävention und litten unter einer kürzlichen Verschlechterung des Funktionszustands.

Durch den Statin-Stopp ist auch eine Reduktion der Polypharmazie möglich, was sich in weniger potenziellen Interaktionen und gegebenenfalls weniger Medikamentenkosten niederschlägt, so die Referentin. Derzeit setzen bereits viele Hausärzte, insbesondere Heimärzte, das Statin vor allem im palliativen Setting und bei eingeschränkter Lebenserwartung ab. (5) Da noch nicht vollständig klar ist, welche Auswirkung das Absetzen hat, sollte dies derzeit idealerweise innerhalb einer klinischen Studie passieren, wie z.B. der aktuell rekrutierenden STREAM-Studie (www.statin-stream.ch; s. Kasten).

STREAM-Studie untersucht Absetzen von Statinen

Die vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützte STREAM-Studie will die Auswirkungen des Absetzens oder Weiterführens von Statinen überprüfen. Eingeschlossen werden multimorbide Erwachsene ≥ 70 Jahre mit mindestens zwei chronischen Erkrankungen, die seit mindestens einem Jahr Statine einnehmen. Die Kontrollgruppe soll die Statintherapie fortsetzen, die Interventionsgruppe absetzen.

Der primäre kombinierte Endpunkt ist definiert als kardiovaskuläres Ereignis (nichttödlicher Myokardinfarkt, ischämischer Schlaganfall) und Tod jeglicher Ursache. Weitere Endpunkte sind u.a. Lebensqualität, Stürze sowie Muskelschmerzen. Mit Unterstützung von allen Schweizer Hausarztinstituten haben Hausärzte zwei Möglichkeiten zur Studie beizutragen:

  1. Recruiter: Die Studie erklären und Patienten an eines der 23 Studienzentren vermitteln (Entschädigung 100 CHF/randomisierter Patient).
  2. Recruiter plus: Patienten selbst in der Praxis einschliessen, inkl. Studie erklären und Unterschrift einholen (Informed Consent, Entschädigung 200 CHF/randomisierter Patient).

Mehr Informationen unter https://www.statin-stream.ch/

Statine «entweder geliebt oder gehasst»

Laut Professor Dr. med. Isabella Sudano, Universitätsspital Zürich, gehören Statine zu den Medikamenten, die entweder geliebt oder gehasst werden. Im kardiovaskulären Bereich sind sie die am besten dokumentierten Medikamente: Sie sind wirksam zur sekundären kardiovaskulären Prävention bei Personen in jedem Alter und zur primären Prävention bis zum Alter von 75 Jahren. Fraglich ist die Wirksamkeit bei älteren Personen mit mehreren chronischen Erkrankungen und Gebrechlichkeit, denn sie sind in keinen Studien vertreten.

Prof. Sudano weist darauf hin, dass sich im Langzeit-Follow-up der oben genannten PROSPER-Studie (6) über zehn Jahre eine reduzierte kardiovaskuläre Mortalität bei den älteren Patienten ohne Hinweis auf erhöhte Krebsraten beobachten liess. Die Metaanalyse der Cholesterol Treatment Trialists Collaboration (3) zeigt zudem, dass von den älteren Patienten vor allem jene mit einer vorbestehenden vaskulären Erkrankung von der Statintherapie profitierten.

Eine neuere Studie (8) untersuchte die Assoziation zwischen Statineinnahme zur Primärprävention und Gesamt- bzw. kardiovaskulärer Mortalität bei US-Veteranen über 75 Jahre. Davon profitierten Personen in jedem Alter, auch über 90-Jährige.

Nach Meinung von Prof. Sudano sollte man weg vom Konzept des chronologischen Alters hin zum biologischen Alter. «Das Alter ist nicht unbedingt das, was in der ID steht», so die Expertin.

Sie weist darauf hin, dass sich ein Stopp der Statine bei älteren Patienten auch negativ auswirken kann. So betrug die Number needed to harm (NNH) durch den Therapie-Stopp einen Schlaganfall oder Myokardinfarkt zu verursachen, 112 in der Primärprävention und 77 in der Sekundärprävention (7).

Eine populationsbasierte retrospektive Beobachtungsstudie (8) aus Frankreich konnte zudem zeigen, dass der Statin-Stopp aus nichtmedizinischen Gründen in der Primärprävention im Alter von 75 Jahren zu einer 33-prozentigen Erhöhung des Risikos für ein kardiovaskuläres Ereignis führt (HR 1,33).

Entscheidung nach Risiko und nicht nach Alter

Ein aktueller Review (10) zum Statinnutzen in der Primärprävention kommt zum Ergebnis, dass die Einnahme bei Erwachsenen mit einem reduzierten Risiko kardiovaskulärer Ereignisse und Gesamtmortalität verbunden ist. Der Nutzen war in allen demografischen und klinischen Populationen zu beobachten. Auch die Anzahl derer, welche die Statine aufgrund von Nebenwirkungen absetzten, war in der Kontrollgruppe nicht höher und es gab keinen Hinweis auf ernsthafte Nebenwirkungen oder eine erhöhte Inzidenz von Krebs, Diabetes oder Myalgien.

Wenn es einen Grund für die Einnahme eines Statins gibt, sollte die Therapie lebenslang erfolgen, so das Fazit von Prof. Sudano. Das Risiko und nicht das Alter sollten die Entscheidung für den Start oder das Absetzen eines Statins leiten. Bei limitierter Lebenserwartung, Gebrechlichkeit, Multimorbidität oder funktioneller Einschränkung ist ein Absetzen in Erwägung zu ziehen.