«Die Medical Tribune durfte man nur im Geheimen lesen»
Tatort: Notfallstation eines kleinen Landspitals im Jahr 1977. Auf dem Untersuchungstisch liegt ein junger Mann mit schmerzender Grosszehe rechts.
Der Befund: eine gerötete Grosszehe, aus dem Nagelfalz kann etwas trüber Eiter abgedrückt werden, darüber wölbt sich ein Deckel aus Granulationsgewebe.
Der Entschluss: Da hilft nur noch eine Kocher-Exzision. Also, Oberarzt rufen, das Plazet einholen und dann mutig ans Werk.
Wer denkt, damit sei ein weiterer Bagatellfall erledigt und einmal mehr mit dem vermeintlich banalen Anfängereingriff mehr Probleme geschaffen als gelöst, hat falsch geraten.
Der Oberarzt nahm seinen Assistenten, mich, zur Seite und erklärte mir, er wende seit ein paar Monaten mit Erfolg eine neue Methode an: mit der Kante eines Objektträgers neben dem Nagelfalz eine Rinne einkratzen, um die Starre des Nagelhalbrohrs zu schwächen, dann vorsichtig den Nagel am Rand hochheben, mit einem zurechtgestutzten Zellstofftupferli unterlegen und so die eingebohrte Nagelkante aus dem entzündeten Gewebe herauswachsen lassen. «Das habe ich in der ‹Medical Tribune› gelesen und es funktioniert!»
Was?!?! Sie lesen dieses Revolverblatt! Das hätte ich Ihnen nie zugetraut! Unter uns gesagt, ich verspreche Ihnen hoch und heilig, das geheimzuhalten! «Schwiwo» (Schweiz. Medizin. Wochenschrift) oder «Praxis» wären ja noch knapp gegangen. Zu dieser Zeit hat man schon die Leser deutscher Ärzteblätter als entwicklungsfähige Hilfsärzte angeschaut; wer etwas auf sich hielt, liess auf der Chefvisite diskrete Hinweise auf gelesene (oder gehörte?) Meinungen aus dem «New England Journal of Medicine» oder «Lancet» einfliessen. Aber «Medical Tribune», nein, so etwas, und dabei noch gratis, da kann ja nichts Vernünftiges drinstehen …
Der Tipp hat sich bewährt und hat mich in meinen 35 Jahren Praxis selten enttäuscht. Viele andere kamen dazu, praktisch, praxisnah, preiswert und wirksam. Einfach die Quelle des nützlichen Wissens nicht verraten. Bald darauf wendeten auch andere Kollegen Methoden an, bei welchen man sich erinnerte, wo sie diese herhatten. Diskretion ist Ehrensache. Der erwähnte Oberarzt hat übrigens eine steile akademische Karriere gemacht.
Die Zeiten haben sich geändert. Die «Medical Tribune» hat ihren Platz in der medizinischen Datenflut gefunden und ist zum beliebten kurzweiligen und kurzgefassten Informationsblatt geworden.
Ich wünsche «Medical Tribune» für die Zukunft alles Gute, ad multos annos!
Dr. Ulrich Castelberg,
ehem. Landarzt, Aarberg
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