Medical Tribune
3. Feb. 2024Seltener als gedacht, und manchmal fehldiagnostiziert

Wie sich eine Nahrungsmittelunverträglichkeit bemerkbar macht

Während viele Patienten glauben, dass sie eine Unverträglichkeit haben, trifft dies in der Schweiz nur auf etwa zwei Prozent der Erwachsenen zu. Ein Experte fasst zusammen, was es zur bakteriellen Dünndarm-Überwucherung SIBO, Zöliakie und der FODMAP-Unverträglichkeit zu wissen gibt.

Eine echte Unverträglichkeit gegenüber Gluten ist selten.
Daisy Daisy/stock.adobe.com
Das Label «glutenfrei» haben sich die Lebensmittelindustrie und diverse Prominente längst zunutze gemacht. Eine echte Unverträglichkeit gegenüber Gluten ist selten, erinnert Prof. Dr. Stephan Vavricka, Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie Zürich.

Bei Erwachsenen sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten grundsätzlich sehr selten, fasst Prof. Dr. Stephan Vavricka, Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie am Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie Zürich zusammen (1).

Jeder glaubt, er hat eine, nur wenige haben wirklich eine

Eine diagnostizierbare Unverträglichkeit liegt in der Schweiz lediglich bei einem bis zwei Prozent der Erwachsenen, und bei fünf bis acht Prozent der Kinder vor. Studien zeigen hingegen, dass zwischen 20 und 35 Prozent der Bevölkerung glaubt, an einer chronischen Verdauungsstörung zu leiden.

Viele Unverträglichkeiten entstehen dadurch, dass das Immunsystem auf einen Bestandteil der Nahrung reagiert. Ein Beispiel ist die Zöliakie, sowie klassische allergische Reaktionen auf Nahrungsmittel, die sich etwa in einer Rhinitis, einem Laryngospasmus, Diarrhö, Erbrechen oder der Anaphylaxie äussern können.

Bei den nicht immunologisch bedingten Störungen gibt es Symptombilder, die aufgrund eines Enzymdefektes entstehen (wie z.B. der Malabsorption von Laktose und Fruktose). Aber auch unspezifischere Krankheitsbilder gehören dazu – etwa der Reizdarm (irritable bowl syndrome, IBS), die bakterielle Überwucherung des Dünndarmes (small intestinal bacterial overgrowth, SIBO), sowie die Unverträglichkeit gegenüber Zuckeranteilen in der Nahrung (fermentable oligo-, di-, monosaccharides and polyols, FODMAPs).

SIBO: «Ein Bauch wie schwanger»

Zu den Patienten, die später mit einer SIBO diagnostiziert werden, gehören oft Menschen, die glauben, sie haben eine Histaminintoleranz, erklärt Prof. Vavricka. Typischerweise leiden sie wechselweise unter Diarrhö und Obstipation, sowie unter postprandialen Blähungen rund 30 Minuten nach dem Essen.

Das liegt daran, dass bei ihnen der Dünndarm, der normalerweise im Verhältnis zum restlichen Verdauungstrakt vergleichsweise keimarm ist, mit Bakterien kolonisiert wird, die keine typischen Bewohner des Dünndarmes sind. Kommt von oben Nahrung, verstoffwechseln diese bestimmte Nahrungsbestandteile – und dabei bilden sich Gase.

Bei Betroffenen äussert sich das oft durch die Entwicklung eines Blähbauches etwa eine halbe Stunde nach der Nahrungsaufnahme. Sie sehen dann aus wie schwanger, berichten viele Patienten. Dazu kommen bei vielen Patienten noch extraintestinale Symptome wie Konzentrationsstörungen («brain fog»), Migräne oder Schlafstörungen.

Besonders anfällig für SIBO sind Patienten, die über längere Zeit Protonenpumpenhemmer (PPI) einnehmen. Diese erhöhen den eigentlich niedrigen pH-Wert im Magen – so überleben viele Bakterien aus dem Mund oder der Nahrung bis in den Dünndarm und siedeln sich dort an. «PPI haben eine Reihe an Nebenwirkungen – wir sollten daher unbedingt versuchen (im Sinne von choosing wisely), sie bei unseren Patienten zu stoppen» fasst Prof. Vavricka zusammen.

Diagnostiziert wird eine SIBO entweder durch eine Gastroskopie, bei der Duodenalsaft entnommen wird, oder durch einen dreistündigen Atemtest nach Aufnahme von Laktulose. Liegt SIBO vor, wird mit Antibiotika behandelt.

Hilft das nichts, kann eine Ernährungsberatung helfen. Bei dieser sollen Patienten lernen, Nahrungsmittel zu vermeiden, die von den im Dünndarm angesiedelten Bakterien zersetzt werden können (z.B. Ballaststoffe). Zusätzlich wenden Ernährungsberater oft pflanzliche Antibiotika an (z.B. Oregano-Öl, Neem, Berberine), die gegen die Bakterien im Dünndarm wirksam sind, berichtet der Experte.

Wie Apps bei FODMAP-Unverträglichkeit helfen können

Ein ähnlicher Pathomechanismus wie bei der SIBO liegt auch bei der FODMAP-Unverträglichkeit vor, erklärt Prof. Vavricka. Dabei reagiert eine individuell ungünstig zusammengesetzte Darmflora – diesmal im Dickdarm – auf die Zufuhr von Nahrungsmitteln, in denen bestimmte Zucker (fermentierbare Oligo-, Di-, Monosaccharide und Polyole, siehe Kasten) enthalten sind, mit übermässiger Gasbildung.

ZuckerklasseVertreterReichlich enthalten inWirkung
Oligosaccharidez.B. Fruktane, Galakto-Oligosaccharide (GOS)Weizen, Roggen, Hülsenfrüchte, Nüsse, Artischocken, Zwiebeln, KnoblauchStark fermentierbar, führen zu starker Gasproduktion
DisaccharideLaktose (Milchzucker)MilchprodukteDas verdauende Enzym Laktase wird in unterschiedlichen Mengen produziert. Gelangt Laktose unverdaut in den Dickdarm, wird sie fermentiert.
MonosaccharideFruktose (Fruchtzucker)Äpfel, Birnen, Wassermelone, Mango, Honig, industrielle Süssungsmittel (z.B. Maissirup)Osmotischer Effekt, zieht passiv Wasser in den Darm
PolyoleMannitol, SorbitolÄpfel, Birnen, Steinfrüchte, Blumenkohl, Pilze, industriell gesüsste ProdukteNur langsame Absorption im Darm, osmotischer Effekt
Tabelle: Wo FODMAPs in der Ernährung anzutreffen sind (2)

Um die unangenehmen Verdauungsprobleme loszuwerden, hilft es nur, FODMAPs in der Ernährung vorübergehend zu vermeiden. Ausserdem sollten Patienten darauf achten, welche Nahrungsmittel sie gut, und welche sie schlecht vertragen.

Wichtige Hilfsmittel sind dabei Positiv- und Negativlisten aus dem Internet (z.B. von Ernährungsberaterin Beatrice Schillling) , sowie Apps, die den FODMAP-Gehalt einzelner Nahrungsmittel visualisieren. Eine App ist etwa die Low FODMAP App der australischen Monash University.

Zöliakie: Das oft verpasste Chamäleon

«Es ist wichtig, den aktuellen Hype um das Gluten von einer echten Glutenproblematik zu unterscheiden», so Prof. Vavricka. Denn eine glutenfreie Kost werde im Moment von allen möglichen Stars propagiert. Und von der Nahrungsmittelindustrie natürlich gerne aufgegriffen: Glutenfrei ist «in», und mittlerweile in Form von diversen Produkten erhältlich.

«Eine Zöliakie kann sich sehr unterschiedlich präsentieren», sagt der Experte. Um das «Chamäleon» nicht zu verpassen, sollte man bei Patienten hellhörig werden, die etwa unter Durchfall, Bauchschmerzen, Blähungen und Symptomen eines Reizdarm leiden. Aber auch Übelkeit, Erbrechen und Gewichtsverlust sind verdächtig.

Zusätzlich äussert sich die Zöliakie auch oft durch extraintestinale Symptome wie

  • Mangel an Eisen oder Vitaminen (z.B. B12, B6, Folsäure, Zink)
  • Fatigue
  • Erhöhung der Lebertransaminasen
  • Osteoporose
  • Infertilität, oder
  • Verfrühte Menopause

Frauen werden später diagnostiziert

Bei Männern dauert es im Durchschnitt 60 Monate vom Auftreten der ersten Symptome bis zur Diagnose, bei Frauen sogar 90, weiss Prof. Vavricka aus einer selbst durchgeführten Studie (3). «Wahrscheinlich liegt das daran, dass wir bei Frauen eher geneigt sind, Symptome wie Bauchschmerzen, Eisenmangel und Müdigkeit als Menstruationsbeschwerden und Reizdarm abzutun – das verzögert womöglich die Diagnostik.»

Eine Zöliakie-Diagnostik sollte auch zumindest einmal durchgeführt werden, wenn eigentlich eine andere Diagnose im Raum steht, erinnert der Experte. Dazu gehören Patienten mit einem potenziellen Reizdarm, sowie Patienten mit einer anderen Autoimmunerkrankung (z.B. Typ-1-Diabetes, Hashimoto), da dies das Auftreten einer zweiten Autoimmunerkrankung oft begünstigt.

Bei Erwachsenen ist dabei eine Dünndarmbiopsie zur Beurteilung der Dünndarmmorphologie, sowie der Nachweis der Zöliakie-Antikörper

  • Anti-Transglutaminase
  • Anti-Gliadin
  • Anti-Endomysium,

sowie des Gesamt-IgA erforderlich. Denn der Gesamtspiegel der IgA-Antikörper kann bei einer Zöliakie ebenfalls erniedrigt sein kann. Dies kann die Erhöhung der Zöliakie-Antikörper maskieren.

«Darüber hinaus sollte man auch alle erstgradigen Verwandten (Eltern, Geschwister, Kinder) ebenfalls mittels Zöliakie-Antikörpern im Blut testen, sobald bei einem Patienten eine Zöliakie diagnostiziert wurde» so Prof. Vavricka. «Bei diesen ist das Risiko etwa zehnfach erhöht – und das geht leider oft vergessen.»