Medical Tribune
29. Juni 2023Blutdrucksenkung bei Betagten

Zielwert 130, 140 oder 150 mmHg?

Ihr 82-jähriger Patient hat einen systolischen Blutdruck von 140 mmHg. Braucht er eine antihypertensive Therapie – und welcher Zielwert ist damit anzustreben? Mit diesen Fragen setzt sich Professor Dr. Dr. Sven Streit, Leiter Interprofessionelle Grundversorgung, Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) am Mepha-Symposium Top Five auseinander.

130, 140 oder 150 mmHg - welchen Zielwert braucht ein betagter Hypertonie-Patient?
Andrii Yalanskyi/gettyimages

«Die Hypertonie ist für 90 Prozent der Männer und Frauen nach ihrer Pensionierung eine Realität», betont Prof. Streit. Dass auch Patienten über 60 Jahre deutlich von einem gut kontrollierten Blutdruck profitieren, zeigten verschiedene Studien.

Doch wie tief soll man den Blutdruck bei alten, eventuell gebrechlichen Patienten senken? Als Beispiel stellte Prof. Streit einen 82-jährigen Patienten vor. Er litt an Typ-2-Diabetes, einer Adipositas, einer leichten Einschränkung der Kognition und war auch ein wenig gebrechlich. Bei dreimaliger Praxismessung betrug sein systolischer Blutdruck 140 mmHg. Auf die Frage nach dem Zielblutdruck dieses Patienten stimmte der Grossteil der Anwesenden für einen Wert zwischen 131–140 bzw. 141–150 mmHg.

Nutzen in randomisierten Studien belegt

Stimmt dies mit den Leitlinienempfehlungen überein? Ein systematischer Review (1) von 45 Guidelines kommt zum Ergebnis, dass die Zielwerte für den systolischen Blutdruck von 120–150 mmHg variieren, 25 Prozent geben überhaupt keinen Zielblutdruck für ältere Menschen an und fast die Hälfte nimmt keinen Bezug auf Gebrechlichkeit. «Sie können also tun, was sie wollen. Es ist immer richtig», so der Experte.

Randomisierte kontrollierte Studien belegen vor allem den Benefit der Blutdrucksenkung. Bereits eine erste Metaanalyse (2) aus dem Jahr 1999 zeigte, dass die Blutdrucksenkung bei über 80-Jährigen Schlaganfälle, MACE (major adverse cardiovascular events) und Herzinsuffizienz reduziert, die Mortalität jedoch erhöht.

Die HYVET-Studie (3) aus dem Jahr 2008 musste vorzeitig abgebrochen werden, da die Verum-Gruppe einen deutlichen Vorteil in puncto Schlaganfallreduktion und Gesamtsterblichkeit aufwies.

Die SPRINT-Studie (4) kam schliesslich zum Ergebnis, dass sogar die Senkung des systolischen Blutdrucks auf < 120 mmHg im Vergleich zu < 140mmHg zu einem Benefit führte. Bei den über 75-Jährigen zeigte sich eine tiefere Sterblichkeit.

Es gab auch weniger Herzinsuffizienz-Fälle, allerdings – in beiden Studienarmen – viele Nebenwirkungen. Aufgrund diverser Ausschlusskriterien entsprechen aber nur wenige Patienten mit Hypertonie aus dem Praxisalltag der Studienklientel, so der Referent einschränkend. In den USA sind dies etwa 17 Prozent.

Kohortenstudien kommen zu anderen Ergebnissen

Ältere, gebrechliche Menschen sind von randomisierten-kontrollierten Studien häufig ausgeschlossen. Diese Studien bilden damit nicht die gesamte Realität ab. «Fehlen diese Patienten in den Studien, dann fehlen sie auch in den Guidelines», betonte Prof. Streit.

Kohortenstudien mit älteren Patienten kommen oft zu anderen Ergebnissen. In der Leiden-85-Kohorte führte jede Blutdrucksenkung um 10 mmHg zu einer 29 Prozent höheren Mortalität und auch zu einem schlechteren Gedächtnis (5). Das höchste Sterberisiko hatten diejenigen Personen über 85 Jahre mit Blutdruck < 140 mmHg unter einer antihypertensiven Therapie. In dieser Situation war auch die Sturzgefahr am höchsten.

Bei Gebrechlichen steigt bei niedrigen Blutdruckwerten die Mortalität

Die Gebrechlichkeit ist ebenfalls ein wichtiger Faktor. Eine deutsche Kohortenstudie (6) mit 1.170 älteren Menschen im mittleren Alter von 73,9 Jahren kam zum Ergebnis, dass gebrechliche Personen bei höherem Blutdruck eine tiefere Sterblichkeit haben als nichtgebrechliche. Bei niedrigen Blutdruckwerten steigt die Mortalität dagegen an.

Ein höherer Blutdruck verursacht bei Gebrechlichen in puncto Hirnschlag und Herzinsuffizienz keine Probleme, so der Referent. Nur das Risiko für Myokardinfarkt und Stents steigt, wenn der Blutdruck > 160 mmHg liegt.

Bei nichtgebrechlichen Patienten steigt dagegen die Gefahr für Schlaganfall, Herzinsuffizienz oder Myokardinfarkt bei einem systolischen Blutdruck > 140–160 mmHg, genauso wie bei < 120 mmHg (7). Eine Cochrane-Analyse (8) kommt schliesslich zum Fazit, dass der geringe Nutzen eines niedrigeren Blutdruckziels verglichen mit dem Standardziel < 140/90 mmHg den dadurch verursachten Schaden nicht aufwiegt.

Klinische Erfahrung mit einbeziehen

Es gibt also wenige Daten aus randomisiert-kontrollierten Studien zu gebrechlichen > 80-jährigen Patienten. Ignorieren sollte man sie darum nicht. Laut Prof. Streit soll die evidenzbasierte Medizin diese berücksichtigen, aber auch die klinische Erfahrung und die Haltung bzw. Rückmeldung der Patienten einbeziehen.

Er empfiehlt bei Personen, die sehr fit sind und die Therapie gut tolerieren (keine Orthostase), den Blutdruck auf < 130 mmHg zu senken, bei fitten Patienten auf < 140 mmHg. Bei gebrechlichen Personen kann man einen Blutdruck < 150 mmHg tolerieren, kommt eine tiefe Lebenserwartung hinzu, sind auch Werte > 150 mmHg akzeptabel.