Medical Tribune
27. Feb. 2017Stabiler Gesundheitszusta

Ärztlicher Kontrollcheck erst ab 75?

Vor bald zwei Jahren hat SVP-Nationalrat Maximilian Reimann einen parlamentarischen Vorstoss eingereicht, welcher eine Neubeurteilung der aktuellen Fahrpraxis verlangt. Der Verband Hausärzte Schweiz sowie eine Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier stehen hinter dieser Vorlage.

Vital, fit und unternehmungslustig: In der heutigen Zeit trifft ein stabiler Gesundheitszustand auf viele Seniorinnen und Senioren zu. Allerdings nehmen gewisse Fähigkeiten mit zunehmendem Alter auch in Bezug auf die Fahrtüchtigkeit ab. Zurzeit gilt in der Schweiz noch die Regelung, dass sich Autolenker ab 70 Jahren alle zwei Jahre auf eigene Rechnung einem Gesundheitscheck unterziehen müssen, der u. a. die Überprüfung der Sehschärfe und des Gesichtsfeldes beinhaltet.

Der Aargauer SVP-Nationalrat Maximilian Reimann möchte eine Neuerung herbeiführen, indem sich besagte Zielgruppe erst ab dem 75. Geburtstag beim Hausarzt melden soll. «Eine Heraufsetzung der Alterslimite ist aufgrund der zunehmend geistig und körperlich gesunden Rentnerinnen und Rentner durchaus angebracht – nicht zuletzt auch im Quervergleich zu Deutschland, Österreich und Frankreich, wo keine derartigen obligatorischen Gesundheitschecks existieren», betont der Politiker. Es dürfe auch nicht vergessen werden, dass zahlreiche unkontrollierte Senioren aus anderen Ländern zusammen mit kontrollierten Schweizern dieselben Strassen befahren.

Fakt ist: In gewissen Situationen fällt so manchen älteren Autofahrern der Blick über die Schulter schwer oder sie übersehen kreuzende Autos auf der Fahrbahn und demnach ist auch eine gesunde Portion Eigenverantwortung gefragt, eine Eigenschaft, die Dr. Philippe Luchsinger, Facharzt für Allgemeinmedizin in Affoltern am Albis (ZH) und Präsident Hausärzte Schweiz, jedoch vermehrt bei seinen Patienten registriert. Zudem stellt er in Bezug auf die Fahrtüchtigkeit nur selten pathologische Befunde fest. «In meiner Praxis handelt es sich ungefähr um einen Patienten pro Jahr, was die Frage aufwirft, ob die Notwendigkeit besteht, solche Untersuchungen bereits ab 70 Jahren durchzuführen im Sinne einer Ressourcenverschwendung.» Wenn viele solcher Checks durchgeführt würden, die sich letztlich als unnötig erwiesen, handle es sich auch um eine nicht sinnvoll erbrachte Dienstleistung.

Es stellt sich die Frage, ob tatsächlich alle Grundversorger genau hinsehen, zumal laut SP-Nationalrätin und Gesundheitspolitikerin Bea Heim ein Hausarzt auch unbewusst befangen sein kann, wenn er einem langjährigen Patienten empfehlen sollte, den Fahrausweis doch besser abzugeben. Deshalb spricht sie sich dafür aus, die Untersuchung von einem unabhängigen Mediziner vornehmen zu lassen.

Anforderungen angepasst an europäische Richtlinien

Auf alle Fälle existieren klare Vorgaben, welche medizinischen Kriterien erfüllt sein müssen, um ein Auto lenken zu dürfen. Seit Juli 2016 gelten für Personen, die Motorfahrzeuge lenken, neue gesundheitliche Mindestanforderungen, die insbesondere das Sehvermögen betreffen. Die Sehschärfewerte (nicht berufsmässig 0,5/0,2) und Gesichtsfeldgrenzen (120 Grad) orientieren sich inzwischen an den europaweit üblichen Anforderungen, was eine leichte Lockerung der bisherigen Kriterien mit sich bringt.

Ausserdem wurde das Verbot, fehlendes Hörvermögen mit passenden Geräten zu kompensieren, aufgehoben, und neu muss im Falle von Diabetes eine stabile Blutzuckereinstellung ohne verkehrsrelevante Unter- und Überzuckerungen gegeben sein. Nur Haus- und Spezialärzte, die eine spezifische Fortbildung absolviert haben, sind befugt, entsprechende Kontrolluntersuchungen vorzunehmen.

In der kürzlich revidierten Verkehrszulassung hat der Bundesrat, auch auf Maximilian Reimanns Intervention hin, den beschränkten Führerschein expressis verbis zugelassen, also eine Light-Version im Zusammenhang mit bestimmten Tageszeiten oder Strassentypen, was vor allem vielen Senioren auf dem Land ermöglicht, individuell mobil zu bleiben. Nach Ansicht des SVP-Politikers gibt es keinen Grund, sich nach wie vor ab 70 obligatorisch einem Gesundheitscheck unterziehen zu müssen.
Zumindest den 70- bis 75-jährigen Schweizern gegenüber empfindet er dies als Diskriminierung von Alters wegen und das bedeute auch einen Verstoss gegen die in der Bundesverfassung garantierte Rechtsgleichheit.

Ratskollegin Bea Heim hält sich eher zurück und fügt an: «Ich empfehle allen Personen ab 70 Jahren einen jährlichen Gesundheitscheck bezüglich Fahrtüchtigkeit. Gegen eine Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse oder Unfallversicherung hätte ich nichts einzuwenden. Dann würden wohl auch die Gefühle der Bevormundung und des Abgezocktwerdens bei den älteren Verkehrsteilnehmenden abnehmen. Schliesslich steht die Sicherheit im Vordergrund.» Auch empfiehlt die Solothurnerin eine freiwillige Fahrt mit einem Fahrlehrer, um sicherzugehen, dass die Reaktionsfähigkeit der Verkehrs- und Hektikzunahme auf den Strassen standhält.

Breite Abstützung durch National- und Ständerat

Sowohl National- als auch Ständerat haben einer Erhöhung der Altersgrenze vor Kurzem zugestimmt. Nun geht die Vorlage vorerst zurück an die Verkehrskommission der Grossen Kammer. Die Vernehmlassungs-Antworten werden schliesslich ausgewertet und fliessen in den endgültigen Gesetzgebungsprozess ein. Maximilian Reimann: «Theoretisch könnte auch noch ein Antrag auf gänzliches Umschwenken auf die Praxis in unseren Nachbarländern eingebracht werden. Vom deutschen Verkehrsministerium wissen wir, dass es keine medizinischen Pflichttests für Senioren-Autofahrer geben soll, weil das sogenannte Vernunftskriterium genügt.»

Apropos Vernunft und Risiko: Im Rahmen der Verkehrsdiskussion scheint ein wichtiger Aspekt nicht vordergründig zu sein und dazu gehörigen wissenschaftliche Untersuchungen. «Es werden viele Zahlen ins Spiel gebracht, aber bis dato fehlen aussagekräftige Beweise. Wir Hausärzte arbeiten ebenso mit Erfahrungswerten wie die Strassenverkehrsämter und die Kantone. Erst wenn notwendige Studien folgen, kann diesbezüglich eine solide Grundlage geschaffen werden, die neue Gesprächsansätze ermöglicht», so der Hausarzt-Präsident. Sein Verband steht klar hinter dem Vorstoss von SVP-Nationalrat Maximilian Reimann, und bislang hätten sich auch die ärztlichen Mitglieder nicht konträr geäussert. Selbst das massive Lobbying seitens der Strassenverkehrsämter, die ihren sogenannten bürokratischen Herrschaftsbereich schwinden sehen, hat diverse Kantonsregierungen nicht davon abgehalten, für eine neue Lösung von Alter 75 Hand zu bieten. Gewichtig für die Parlamentarier ist das Ja der Hausärzte.

Auch Bezugspersonen mit einbeziehen

Warum sollte also etwas, was in anderen Ländern offenbar gut funktioniert, nicht auch in der Schweiz möglich sein? Die Politiker appellieren auch an die Bezugspersonen der Senioren, die eine fragliche Fahrtauglichkeit ebenfalls melden könnten. Ein Ratschlag von solcher Seite könne einen «verhockten Stein» sehr wohl ins Rollen bringen, und der Bund besitze zudem die Kompetenz zur Vornahme einer entsprechenden Sensibilisierungskampagne, sagt der Initiant des Vorstosses. Noch wichtiger scheint SP-Nationalrätin Bea Heim zu sein, dass die Fahrtüchtigkeitschecks nicht als ein Zeichen von Schwäche verstanden werden. Vielmehr müsse man von eigenverantwortlichem Handeln und Selbstbewusstsein sprechen.

Ob künftig 70 oder 75 Jahre: «Wenn ein Autolenker die vorgegebenen gesundheitlichen Kriterien erfüllt, heisst das aber noch lange nicht, dass er tatsächlich gut Auto fahren kann», meint Dr. Luchsinger mit Nachdruck.