Medical Tribune
22. Feb. 2017Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse

Statine zur Primärprävention heiss diskutiert

Bei der Lipidsenkung stehen die Zeichen in den USA ganz auf Primärprävention. In einer kürzlich aktualisierten Empfehlung heisst es: Schon 40-Jährige mit erhöhtem Gefässrisiko sollen ein Statin erhalten – selbst wenn sie noch nie ein kardiovaskuläres Ereignis hatten. Unter Experten sorgt diese Einschätzungen für Zündstoff.

Entscheidend für den Nutzen einer Primärprävention ist das Risiko des individuellen Patienten für kardiovaskuläre Ereignisse. Die US Preventive Services Taskforce (USPSTF) empfiehlt die Prophylaxe von Herz-Kreislauf-Ereignissen, wenn bei einem Patienten die folgende Konstellation vorliegt:1

  • Alter zwischen 40 und 75 Jahren
  • mindestens ein Gefässrisikofaktor (z. B. Dyslipidämie, Diabetes, Hypertonie, Rauchen)
  • kalkuliertes 10-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis (Herzinfarkt, Schlaganfall) von 10 % oder mehr (s. Kasten).

Auch Patienten mit einer Ereigniswahrscheinlichkeit von 7,5–10 %, aber ansonsten gleicher Konstella­tion können von der Primärprävention mit einem Statin profitieren, so die USPSTF-Autoren. Wegen des niedrigeren Ausgangsrisikos falle der Nutzen zwar geringer aus, in Einzelfällen könne die Prophylaxe aber sinnvoll sein. Für ältere Erwachsene (ab 76 Jahren) ohne Herzinfarkt oder Schlaganfall in der Vorgeschichte reicht die derzeitige Evidenzlage dagegen nicht aus, um ein Statin zu empfehlen.
Die aktualisierte Empfehlung basiert auf den Ergebnissen von 19 randomisierten kontrollierten Studien mit zusammen mehr als 70 000 Teilnehmern. Das Durchschnittsalter der Probanden lag zwischen 51 und 66 Jahren und sie hatten ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko, aber keine anamnestisch bekannte Gefässerkrankung. Die Studien verglichen den Effekt einer Statin-Therapie mit Placebo bzw. keiner Therapie.2

Die gepoolte Analyse ergab signifikante Vorteile für die Primärprophylaxe. Neben der Gesamtmortalität verringerte sich auch die kardiovaskuläre Sterblichkeit (Relatives Risiko, RR, 0,86 bzw. 0,69). Dem entsprach ein ebenfalls signifikant reduziertes Risiko für ischämische Schlaganfälle und Myokardinfarkte (RR 0,71 bzw. 0,64) sowie kardiovaskuläre Endpunkte allgemein (RR 0,70). Der absolute Benefit der Prävention war umso grösser, je höher das Ausgangsrisiko in der analysierten Subgruppe lag.

Moderater präventiverEffekt sorgt für Kritik

Kritik meldet die Arbeitsgruppe um Dr. Rita F. Redberg, Universität von Kalifornien, San Francisco, in ihrem Kommentar an. Laut den Experten waren in den Studien auch Patienten mit sekundärpräventiver Therapie nicht ausgeschlossen. Sie könnten wegen des erhöhten Benefits das Ergebnis geschönt haben. Schliesslich zeigte eine Metaanalyse der strikt primärpräventiven Studien (> 65 000 Probanden) keine Reduktion der Gesamtmortalität.3

Warnung vor«Alles-oder-nichts-Strategie»

Die neuen Empfehlungen dürften die Debatte um den Statin-Einsatz bei asymptomatischen Patienten wohl nicht beenden, so die Kollegen aus San Francisco. Nicht zuletzt wegen des eher moderaten Effekts: Die USPSTF selbst schätzt, dass 244 Patienten fünf Jahre lang täglich ein Statin einnehmen müssen, um einen Todesfall jedweder Ursache zu verhindern.

In den zugrunde liegenden Studien erwies sich die niedrig bis mittelhoch dosierte Statin-Prophylaxe insgesamt als gut verträglich. In der gepoolten Analyse wurden keine ernsten Nebenwirkungen registriert und die Zahl der Therapieabbrüche bewegte sich auf Placeboniveau. Auch Myalgien traten nicht vermehrt auf. Letztere Beobachtung werde zwar unterstützt durch ein Review, das an der Existenz statinassoziierter muskulärer Symptome ohne CK-Erhöhung zweifelt, führt Dr. Paul D. Thompson, Hartford Hospital, Hartford, in seinem Kommentar an.4 Jedoch sehe die Realität anders aus: Kliniker schätzen, dass etwa 10% der Patienten unter Myalgien leiden. Die einzige randomisierte Untersuchung, die speziell diese Nebenwirkung erfasste, gibt ihnen recht und beziffert die tatsächliche Inzidenz mit 5 %.
Dr. Ann Marie Navar vom Duke Clinical Research Institute in Durham und Kollege sehen zudem noch einen erheblichen Graubereich in puncto Statin-Indikation.5 Die USPSTF legt den Fokus auf das 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, der LDL-Cholesterin-Wert bleibt aussen vor. Er gilt in der Empfehlung nur als Risikofaktor, muss für eine Therapie also nicht erhöht sein. So kann es z.B. passieren, dass ein 41-jähriger Hypertoniker mit einem LDL von 4 mmol/l durchs Raster fällt, weil sein 10-Jahres-Risiko bei 2% liegt, verdeutlichen die Experten und warnen die behandelnden Kollegen vor einer «Alles-oder-nichts-Strategie».

10-Jahres-Risiko einfach online berechnen

Um das 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse zu bestimmen, empfiehlt die US Preventive Services Taskforce einen Online-Risiko-Kalkulator und beruft sich dabei auf die amerikanischen Leitlinien. Unter http://tools.acc.org/ASCVD-Risk-Estimator/ trägt man verschiedene Patienten- und Laborparameter (z.B. Geschlecht, Gesamtcholesterin, Hypertonus) in die entsprechenden Felder ein. Hat man alle Werte eingetragen, wird das Risiko im gleichen Fenster angezeigt.

1. Bibbins-Domingo K et al. JAMA 2016, 316: 1997–2007.
2. Chou R et al. A. a. O: 2008–2024.
3. Redberg RF et al. A. a. O: 1979–1981.
4. Thompson PD. A. a. O: 1969–1970.
5. Navar AM et al. A. a. O: 1981–1983.