Medical Tribune
22. Aug. 2015

Weniger ist oft mehr: Braucht Ihr Patient zehn verschiedene Medikamente?

Betagte Patienten sind häufig polymorbide und nehmen mehr als zehn verschiedene Medikamente pro Tag ein. Das kann zu erheblichen Schwierigkeiten führen. Deshalb fordern Experten ein Überdenken der Verschreibungsgewohnheiten.

In seiner Strategie «Gesundheit 2020» verlangt der Bundesrat eine patientenorientierte Sicht bei der Erforschung der Wirksamkeit von Therapien, denn rund 30 % aller Personen in der Schweiz und in anderen europäischen Ländern sind multimorbide.

Was bis anhin jedoch fehlt, sind aussagekräftige Studien im Zusammenhang mit chronisch kranken Menschen, und entsprechend wurden medikamentöse Nebenwirkungen nicht genauer unter die Lupe genommen, was Professor Dr. Nicolas Rodondi, Leiter Medizinische Poliklinik und Chefarzt für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital Bern, kritisiert: «Die Pharmaindustrie ist wohl kaum daran interessiert, weniger Medikamente zu verkaufen, und stellt demnach auch kein Geld für solche Studien zur Verfügung.»

Die Europäische Union unterstützt allerdings mittlerweile einige Forschungsprojekte im Bereich Multimorbidität, nicht zuletzt auch deshalb, weil Ärzte im Zeitalter der höheren Lebenserwartung immer öfter mit diesem Thema konfrontiert werden.

In zahlreichen Altersheimen nehmen Bewohner im Durchschnitt 12,8  Medikamente pro Tag ein, und nur selten wird infrage gestellt, ob man gewisse Arzneien auch absetzen könnte. Prof. Rodondi wies auf eine kürzlich durchgeführte Studie hin, die sich mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob man Statine bei älteren Personen weglassen kann. Hier hat sich gezeigt, dass ein solches Vorgehen möglich ist, ohne weitere Herzerkrankungen bei kardiovakulär Gesunden hervorzurufen. Durch Polymedikation verursachte Nebenwirkungen gehören zudem zu den fünf häufigsten Todesursachen.

Dr. Albert Wettstein, ehemaliger Zürcher Stadtarzt und Privatdozent für geriatrische Neurologie, Universität Zürich, fügt an: «Es gilt, die Richtlinien sämtlicher Fachgesellschaften mit Fingerspitzengefühl anzupassen, was die Behandlung von älteren Patienten angeht. In 14 % der Fälle werden zu viele Arzneien verordnet.»

Beim Diabetes mellitus hat man bereits erkannt, dass ältere Personen nicht dieselbe intensive Behandlung erhalten dürfen wie jüngere Patienten, da ansonsten mit verhängnisvollen Auswirkungen gerechnet werden müsse. Dr. Wettstein berichtete auch von einem Patienten, der unter Halluzinationen litt. Als er ihm riet, den Betablocker, den er gegen seinen Bluthochdruck nahm, abzusetzen, verschwanden die Beschwerden.

Bei jedem Medikament den Nutzen hinterfragen

Deshalb ist es sinnvoll, bei jedem neuen Symptom zu prüfen, ob es die Nebenwirkung eines Medikaments sein könnte, und die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Spezialisten zu verbessern. Dr. Wettstein: «Viele Hausärzte trauen sich kaum, die Empfehlungen der Fachärzte nicht zu befolgen. Es liegt jedoch in erster Linie an den Allgemeinmedizinern, die gesamte Situation zu gewichten. Eine gute internistische Klinik übernimmt auch solche Aufgaben, doch scheinen Assistenzärzte in den Spitälern nur allmählich sensibilisiert, wenn es um Polymedikation geht.» Nach Ansicht des ehemaligen Zürcher Stadtarztes ist es auch von zunehmender Bedeutung, dass chronisch kranke Patienten zum Medikamenten-Selbstmanagement befähigt werden und über eine Liste mit den entsprechenden Arzneinamen verfügen.

Diese Ansicht vertritt auch Dr. Philippe Luchsinger, Facharzt für Allgemeinmedizin in Affoltern am Albis und Vorstandsmitglied Hausärzte Schweiz: «Eine grosse Herausforderung stellt die Koordination der Medikamente dar. Gelingt es, lediglich notwendige Arzneien einzusetzen, kann das Risiko von Nebenwirkungen erheblich gesenkt werden. Doch ist nicht immer gleich zu erkennen, ob es sich um eine Neuerkrankung oder eine unerwünschte Nebenwirkung handelt.»

Allerdings kann man die Absetzung eines Medikaments nicht in jedem Fall auf die leichte Schulter nehmen, vor allem in jenen Fällen, in denen die Patienten die Arzneimittel bereits seit mehreren Jahren einnehmen.  

Bessere Zusammenarbeit zwischen Haus- und Facharzt

Entscheidend sind vor allem das Gespräch mit den Patienten und die Kooperation unter den Medizinern. Doch fehlt es laut Dr. Luchsinger diesbezüglich hin und wieder am nötigen Willen, oder es geht im Alltag oft vergessen. Prof. Rodondi stellt nicht selten fest, dass manche ältere Patienten lediglich Spezialisten konsultieren und demzufolge niemand die notwendige Koordination übernimmt, was das Risiko von Nebenwirkungen klar erhöht. Umso wichtiger sei es, auf Versorgungsforschung zu setzen, die der Bund noch dieses Jahr vorantreiben will, damit Patienten umfassender behandelt werden könnten. «Das Ziel sollte darin bestehen, das Problem der Wechselwirkungen unter Kontrolle zu bekommen. Das elektronische Patientendossier kann in dieser Hinsicht eine Unterstützung bieten. Verabreiche ich Medikamente, kann ich auf ein Tool zurückgreifen, das mich auf Interaktionen hinweist», so der Dr. Luchsinger. Hierfür müssen er und seine Berufskollegen über bisherige Medikamenteneinnahmen ausführlich Bescheid wissen, was nicht immer gegeben ist.

Es geht aber nicht allein um die Reduktion der Medikamente, sondern auch um die Frage, ob damit auch weniger Hospitalisationen notwendig sind, wenn sich Patienten dadurch besser fühlen. Dies wird eine Studie in verschiedenen europäischen Ländern unter der Leitung des Berner Inselspitals untersuchen.

Ein Patient sollte nicht mehr als 6 Medikamente nehmen

Fakt ist zudem: Wenn ältere Menschen in ein Pflegeheim eintreten, werden die Medikamente täglich abgegeben. Viele Betagte fühlen sich dann oft schlechter, weil sie die Medikamente erstmals konsequent einnehmen müssen.

Dr. Wettstein plädiert dafür, dass Angehörige von Pflegeheim-Patienten die zuständigen Ärzte auf allfällige Beobachtungen und Befindungsstörungen hinweisen. Die Ärzte könnten dann vielleicht eher eine Reduktion der Medikamente ins Auge fassen. Als Grundregel sollte gelten: Ein Patient darf nicht mehr als sechs Medikamente zu sich nehmen. 

In Bezug auf Beruhigungs- und Schlafmittel sind zahlreiche Ärzte mittlerweile zurückhaltend. So verzichten sowohl Dr. Luchsinger als auch Dr. Wettstein auf die Verschreibung von Benzodiazepinen, die insbesondere älteren Menschen nicht verordnet werden sollten – aufgrund von Gangunsicherheiten und Entzugserscheinungen. «Natürlich ist es bequem, diese Medikamente in Alterszentren abzugeben, da der Patient ruhiggestellt wird, doch empfiehlt es sich, auf Antidepressiva wie Mianserin oder Trazodon umzusteigen», so Dr. Wettstein. Dabei handelt es sich jedoch um Arzneien, die bei jüngeren Ärzten eher unbekannt sind. Werbung wird lediglich für neue Medikamente betrieben.

Unabhängig davon, welches Medikament zum Einsatz gelangt: Bei den 70- bis 100-jährigen Personen kann mindestens ein Befund mit einer Nebenwirkung eines Arzneimittels in Verbindung gebracht werden. Dass es sich um ein ernstes Problem handelt, zeigt die sogenannte Priscus-Liste, die über 80 Medikamente enthält, die für Senioren ungeeignet sind.

Trotz des medizinischen Fortschritts und bewährter Medikamente gilt es, stets den Einzelfall abzuwägen und eine gesunde Balance zu halten.