Medical Tribune
12. Okt. 2021Wer nicht hören will, muss fühlen

Was körperliche Züchtigung auf Dauer bei Kindern anrichtet

Die immer noch verbreitete Vorstellung, körperliche Bestrafung sei eine effektive Erziehungsmassnahme, wird erneut klar widerlegt. Stattdessen fallen bei den als Kind Betroffenen bis ins Erwachsenenalter Aufmerksamkeitsdefizite, impulsives und aggressives Verhalten auf.

Dieses Kind hat sich nicht beim Spielen verletzt. Auch andere Unfälle konnten ausgeschlossen werden.

Vielerorts hält sich der Glaube an den erzieherischen Wert körperlicher Züchtigung. Dr. Anja Heilmann vom Department of Epidemiology and Public Health des University College London und Kollegen führten vor diesem Hintergrund ein narratives Literaturreview durch. Ziel war es, den politischen Entscheidern ebenso wie praktizierenden Ärzten die Erkenntnisse der letzten zwei Jahrzehnte besser zugänglich zu machen.

Beziehung zu den Eltern leidet

Insgesamt 69 prospektive Langzeitstudien, die in den letzten zwei Jahrzehnten in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, haben die Wissenschaftler ausgewertet. Arbeiten, in denen es um massive Gewaltanwendung (u.a. unter Verwendung von Gegenständen) gegenüber Kindern ging, schloss man aus. Der Fokus lag auf jener Intensität an körperlicher Gewalt, die auch noch in vielen Ländern in einer Grauzone liegt, also weder rechtlich noch gesellschaftlich klar sanktioniert wird.

Die gängige Argumentation, über eine körperliche Züchtigung solle kindliches Verhalten zum Positiven korrigiert werden, steht in krassem Gegensatz zu den Ergebnissen der Wissenschaftler. Bei Kindern, bei denen solche erzieherischen Massnahmen angewendet wurden, zeigte sich langfristig nicht weniger, sondern mehr problematisches – z.B. aggressiveres – Verhalten. Ganz zu schweigen davon, dass die Beziehung zu den Eltern litt. Denn auch ein sonst liebevolles elterliches Verhalten schien keinen ausreichenden Puffer zu bieten.

Nachweis einer Dosis-Wirkungs-Beziehung

Weiterhin war nicht erkennbar, dass körperliche Züchtigung überhaupt irgendeinen positiven Effekt erreichen kann. Untersucht wurde unter anderem ein möglicher Einfluss auf kognitive Fähigkeiten und soziale Kompetenz. In jeder Hinsicht fiel das Ergebnis in der Gesamtbetrachtung negativ aus.

Ein deutlicher Zusammenhang ergab sich hingegen mit externalisierenden Störungen. Diese äussern sich beispielsweise über Hyperaktivität, Impulsivität, Aufmerksamkeitsdefizite, oppositionelles Trotzverhalten sowie aversiv-aggressives Verhalten. Die Verbindung verhält sich reziprok: Externalisierendes Verhalten ist einerseits ein typischer Auslöser körperlicher Züchtigung und kann andererseits durch eben jene verstärkt werden. Spätere internalisierende Störungen (mit Ängstlichkeit und Depressivität) hingen ebenfalls mit körperlicher Bestrafung zusammen, allerdings nicht reziprok und mit etwas geringerer Evidenz. In einigen Studien schienen Fünfjährige besonders vulnerabel bezüglich späterer Verhaltensänderungen zu sein.

Ein wichtiges Indiz für Kausalität ist der Nachweis einer Dosis-Wirkungs-Beziehung. Studien, die einen solchen Zusammenhang untersucht haben, legen nahe: Je öfter Kinder körperlich bestraft wurden, desto gravierender waren zum Beispiel aggressive Verhaltensauffälligkeiten im späteren Leben. Gleichzeitig liess sich in zwei Studien über die Reduzierung der Bestrafung auch das problematische Verhalten der Kinder verbessern.

Der Übergang von «massvoller» Züchtigung zur Kindesmisshandlung scheint fliessend. Studien, die diesen Aspekt einschlossen, wiesen in Familien, in denen Kinder über körperliche Züchtigung erzogen wurden, ein erhöhtes Risiko für Kindesmisshandlung nach. Laut einer kanadischen Studie, in der Daten staatlicher Sozialdienste ausgewertet wurden, gaben rund 75 % der Täter als Legitimation für eine Misshandlung an, das Kind müsse bestraft werden. Die Grenze, wann sich ein Kind akzeptabler und wann nicht akzeptabler Gewalt gegenüber sieht, erscheint allerdings willkürlich und eine Unterscheidung damit äusserst fragwürdig.

Schweden gilt als gutes Beispiel

Körperliche Züchtigung ist kein geeignetes Verhaltenskorrektiv, sondern provoziert bzw. akzentuiert problematisches Verhalten, wie die Autoren betonen. Sie appellieren, den Schutz der Kinder vor körperlicher Bestrafung in viel mehr Ländern gesetzlich zu verankern. Aufklärung ohne juristische Unterstützung sei nicht zielführend.

Als Langzeitbeispiel für eine gute gesetzliche Regelung gilt Schweden. Dort hatte man bereis 1979 alle Arten körperlicher Züchtigung gesetzlich verboten. Drei nationale Langzeit-Kohorten belegen die positive Wirkung. Am Ende des Follow-up-Zeitraums hatte sich der Anteil von Erwachsenen, die in ihrer Kindheit geschlagen worden waren, von 83 % (1958) auf 27 % (2011) reduziert.

Dennoch scheint dieser Effekt weniger auf häufigeren strafrechtlichen Massnahmen gegen die Eltern zu beruhen. Eine neuseeländische Studie zeigt, dass dort juristische Konsequenzen weiterhin den schweren Misshandlungen vorbehalten blieben, schreiben die Autoren. Sie vermuten viel mehr einen erzieherischen Effekt der Gesetze.

Heilmann A et al. Lancet 2021; doi: 10.1016/S0140-6736(21)00582-1