Medical Tribune
2. Juni 2021Auf charakteristische Symptome achten!

Psychisch krank vom Hirnschaden

Viele Patienten mit erworbener Hirnschädigung werden in der Folge depressiv. Oft verhindert diese Kombination, dass sie ihre verbliebenen Fähigkeiten optimal nutzen können. Umso wichtiger ist es, rechtzeitig zu intervenieren.

Rund jeder dritte Schlaganfallpatient entwickelt eine Depression.

Prinzipiell können Läsionen in jedem Bereich des Gehirns organisch bedingte psychische Störungen verursachen – unterschieden wird zwischen traumatischer und nicht traumatischer Genese (s. Kasten). Je nach Ort der Schädigung treten typische Veränderungen auf, erklären Dr. Steffen Aschenbrennervom SRH Klinikum Karlsbad und Kollegen.

Nach einem Schlaganfall muss man im Akut- und im Postakutstadium mit psychiatrischen Folgen rechnen. Kurz nach dem Insult entwickeln Betroffene ein Delir (Verwirrtheit, Halluzinationen), das unbehandelt die Prognose empfindlich trüben kann. Manche sind wach, aber teilnahmslos, sprechen nicht und reagieren kaum auf externe Reize (akinetischer Mutismus). Etwa ein Drittel der Patienten erkrankt an einer Poststroke-Depression. Besonders hoch ist das Risiko bei Sprachproblemen und kognitiven Störungen.

Tritt eine Epilepsie infolge des erworbenen ZNS-Schadens auf, entwickeln etwa 30 % der Patienten auch eine depressive Störung. Diese äussert sich typischerweise mit vermehrter Reizbarkeit vor dem Anfall, postiktaler Dysphorie bzw. anhaltend gedrückter Stimmung im Intervall. Angsterkrankungen sind mit einer Prävalenz von 15–20 % ebenfalls häufig. Obwohl sich Epilepsie-assoziierte Psychosen meist 24–48 Stunden postiktal manifestieren und sich binnen zwei Wochen zurückbilden, sind auch kurzdauernde Episoden während des Anfalls mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen möglich. Die früher beschriebene epileptische Wesensveränderung hingegen gibt es nach heutigem Kenntnisstand nicht.

Symptome organischer Störungen

  • Apathie, z.B. einsilbiges passives Gesprächsverhalten
  • Verletzung sozialer Regeln, unter anderem unangemessene Körperberührungen bis hin zur Enthemmtheit
  • gestörte Kommunikationsfähigkeit
  • mangelnde Empathie
  • reduzierte Impulskontrolle
  • eingeschränkte Krankheitswahrnehmung, Verleugnung der Symptome

Bei neu aufgetretenen psychiatrischen Störungen (z.B. Psychosen, kognitive Einschränkungen) raten die Autoren, mittels Serum-, Liquordiagnostik und MRT eine potenziell tödliche Autoimmunenzephalitis und Neoplasien auszuschliessen. Die frühzeitige Diagnose kann dem Patienten einen langen Aufenthalt auf der Intensivstation ersparen bzw. die Krebsprognose deutlich bessern.

Betroffene nehmen ihre Veränderungen kaum wahr

Patienten mit organisch bedingten psychischen Störungen fallen mit charakteristischen Symptomen auf (s. rechter Kasten). Sie verletzen z.B. soziale Regeln oder können sich nur schwer in andere hineinversetzen und zeigen eine eingeschränkte Impulskontrolle. Viele nehmen ihre Einschränkungen nur unvollständig wahr, leugnen sie eventuell sogar.

Neben organisch bedingten psychischen Veränderungen muss man mit stressbedingten, reaktiven Erkrankungen rechnen, z.B. durch Rollenverlust oder der Auseinandersetzung mit den Einschränkungen bzw. mit dem Tod. Am häufigsten sind Depression, Anpassungs- und posttraumatische Belastungsstörung.

Zum Screening eignen sich zwei einfache Fragen

Sie entwickeln sich meist zeitnah zur Läsion, können aber auch erst Jahre später auftreten. Ob sich eine PTBS auch nach einem Schädel-Hirn-Trauma mit Amnesie ausbilden kann, ist allerdings unklar. Patienten mit zerebralem Insult leiden zudem oft an vermehrten Ängsten. Zum Screening eignen sich zwei einfache Fragen: Sind Sie nervös oder ängstlich? Machen Sie sich Sorgen? Zudem empfehlen Dr. Aschenbrenner und Kollegen, bei erworbener Hirnschädigung die Suizidalität abzuklären. Ein hohes Risiko besteht, wenn Patienten ihre Einschränkungen realisieren und die Hoffnung auf Besserung schwindet.

Eine symptomorientierte Pharmakotherapie organisch bedingter psychischer Störungen sollte behutsam eingesetzt werden (Komorbiditäten, reduzierter Allgemeinzustand der Patienten) – das gilt vor allem für eine medikamentöse Sedierung. Bei Depressionen nach Schlaganfällen oder Schädel-Hirn-Traumata bevorzugen die Autoren aufgrund der guten Verträglichkeit selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Von tri- und tetrazyklischen Antidepressiva raten sie wegen der häufigen cholinergen Nebenwirkungen und des prokonvulsiven Effekts eher ab.

Will man nach einem SHT Aufmerksamkeit, Antrieb und Konzentration verbessern, raten die Experten gemäss der entsprechenden Leitlinie zu Amantadin und L-Dopa – trotz ihres Delir und Psychose induzierenden Potenzials. Im Einzelfall können off label Methylphenidat, Modafinil und Donepezil eingesetzt werden. Besondere Vorsicht ist wegen der erhöhten Sturz- und Aspirationsgefahr mit Benzodiazepinen geboten. In Akutsituationen mit Angst bzw. Fremd- oder Selbstgefährdung kommt man allerdings manchmal um kurz wirksame Vertreter (z.B. Lormetazepam, Oxazepam) nicht herum.

Eine längerfristige Neuroleptika-Therapie sollte eigentlich nur bei psychiatrischen Begleiterkrankungen erfolgen. Denn Hirngeschädigte tragen ein erhöhtes Risiko für Konvulsionen, kardiovaskuläre und extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen sowie für ein malignes neuroleptisches Syndrom. Am ehesten können Atypika eingesetzt werden. Beim akuten Delir ist die kurzzeitige Behandlung mit Haloperidol oder Risperidon weiterhin Standard, eventuell kombiniert mit niederpotenten Wirkstoffen wie Pipamperon und Melperon.

Erworbene Hirnschädigungen

  • traumatisch: Stürze, Verkehrs- und Arbeitsunfälle, Sportverletzungen, körperliche Übergriffe
  • nicht traumatisch: Schlaganfälle, Infektionen (Meningitis, Enzephalitis), Tumoren, Giftstoffexposition, Stoffwechselerkrankungen, Sauerstoffmangel, Substanzmissbrauch

Einfluss von Medikamenten berücksichtigen

Besonders zu beachten ist die Induktion und Verstärkung psychischer Symptome durch Medikamente. So kann das Antiepileptikum Levetiracetam Depression, Angst, Unruhe und Aggressivität auslösen, eventuell sogar psychotische Symptome. Zu den Nebenwirkungen der Valproinsäure gehören Sedierung, Tremor und Gedächtnisstörungen.

Eine Psychotherapie ist auch bei hirngeschädigten Patienten möglich. Sie sollte aber an die kognitiven Einschränkungen angepasst werden und ausserdem berücksichtigen, dass Patienten sich i.d.R. nicht freiwillig in eine Behandlung begeben haben. Häufig besteht das primäre Therapieziel darin, die Einsicht in die eigene Störung und damit die Motivation für eine Behandlung zu fördern.

Aschenbrenner S et al. Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89: 114–129; doi: 10.1055/a-1309-0725.