Medical Tribune
25. Mai 2021Geschlechtsorientierte Krankheitsprävention

Wie gendermedizinische Erkenntnisse den ärztlichen Alltag verändern könnten

Frau hält Transgender Symbol in die Luft
iStock/nito100

Männlich, weiblich, nicht-binär: Man weiss noch wenig über Verbindungen von Gender und Gesundheit.

Erst seit wenigen Jahren wird untersucht, wie sich Krankheitsverläufe und Arzneiwirkungen nach Geschlecht unterscheiden. Die Forschung würde profitieren, wenn öfter sensible Daten abgefragt würden. Ein Gespräch mit Professor Dr. Gertraud Stadler, Psychologin und Leiterin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin, und Professor Dr. Wolfram Herrmann vom Institut für Allgemeinmedizin.

Bisher am meisten erforscht sind die Unterschiede in der Kardiologie. Beispiel: Frauen sterben sieben Jahre später als Männer am Herzinfarkt. Warum?

Prof. Stadler: Man weiss, dass Frauen andere Risikofaktoren haben, die sich anders oder teilweise erst später auswirken, z.B. ist Diabetes ein wichtigerer Risikofaktor bei Frauen als bei Männern und Frauen rauchen seltener als Männer. Was man nicht weiss: Warum Frauen andere Symptome als Männer beim Herzinfarkt entwickeln. Bekannt ist darüber hinaus, dass sowohl die Betroffenen als auch die Ärzte bei Frauen seltener an einen Infarkt denken: Mann mit Brustschmerz = Infarkt, Frau mit Brustschmerz = Panikattacke. An solchen Stereotypen müssen wir arbeiten.

Eine Studie zeigte, dass Frauen seltener reanimiert werden. Was könnte das für Gründe haben?

Prof. Stadler: Hier könnte unter anderem die Sexualisierung eine Rolle spielen, das heisst die Hemmung von Helfern, die weibliche Brust zu entblössen. Und Reanimationstrainings finden nur an männlichen Torsopuppen statt. Es wäre sicher ein sinnvoller Ansatz, weibliche Trainingspuppen herzustellen.

Prof. Herrmann: In anderen Ländern, z.B. Norwegen, finden schon in der Ausbildung Untersuchungen an entkleideten Probanden jeden Geschlechts statt. Auch das ist eine gute Massnahme, um Hemmungen abzubauen.

Welche allgemeinen Zusammenhänge zwischen Geschlecht und Mortalität sind bekannt?

Prof. Stadler: Generell gibt es einen Zusammenhang zwischen geringeren kognitiven Fähigkeiten und höherer Mortalität. In einer Populationsstudie haben wir jetzt gesehen, dass diese Assoziation bei Männern sehr viel stärker ausgeprägt ist. Das sollten wir im Hinterkopf behalten.

Das heisst, schon Prävention muss geschlechtergerecht erfolgen?

Prof. Stadler: Gerade die Prävention! Die Unterschiede kennen und Risikofaktoren genderspezifisch modifizieren: Das ist die Aufgabe von Ärzten. Ein Beispiel: Männer fühlen sich in gängigen Abnehmprogrammen nicht wohl und man trifft sie dort auch kaum. Aus UK kennen wir Gruppen, die aus männlichen Fussballfans bestehen und mit Erfolg gemeinsam gegen die überschüssigen Pfunde kämpfen. Ähnliche Ideen sollten wir auch verfolgen.

Prof. Herrmann: Was die Geschlechter angeht, dürfen wir nicht-binäre Menschen nicht vergessen. Sie fühlen sich oft nur unzureichend versorgt und wir müssen lernen, deren spezielle Bedürfnisse zu erkennen.

Ein Wort zu COVID-19. Hier wissen wir, dass Männer schwere Verläufe haben und eine höhere Mortalität. Gibt es dazu schon Erkenntnisse?

Prof. Stadler: Sichere Erkenntnisse haben wir noch nicht. Wir vermuten, dass Frauen das stärkere Immunsystem besitzen, denn es ist bekannt, dass sie auch stärker auf Impfungen ansprechen. Wahrscheinlich weisen Männer ausserdem mehr relvante Komorbiditäten auf und möglicherweise suchen bzw. suchten sie zumindest in der Anfangszeit der Pandemie bei entsprechenden Symptomen zu spät Hilfe.

Wie können Ärzte sich zum Thema Gendermedizin weiterbilden?

Prof. Herrmann: Für Ärzte und Ärztinnen, die sich in der Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin befinden, bieten die Kompetenzzentren Weiterbildung (KW) inzwischen Seminare an. Spezielle Angebote zu geschlechterspezifischer Medizin gibt es in unserem KW bisher zwar noch nicht. Einige Kurse integrieren das Thema aber, etwa wenn es um die Langzeitversorgung nach Herzinfarkten geht. Künftig möchten wir auch gezielt Seminare und Workshops anbieten, zum Beispiel rund um die geschlechterspezifische Prävention.

Prof. Stadler: Weitere Möglichkeiten zur Weiterbildung bietet die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. Auch im Studium wird die Gendermedizin immer wichtiger und in den neuen Gegenstandskatalog aufgenommen. In Berlin sind wir hier schon weit fortgeschritten.

Wie unterscheidet sich der Studiengang in Berlin vom Angebot der anderen Fakultäten?

Prof. Stadler: Schon am ersten Tag gibt es eine Vorlesung, die den Blick für Geschlechterunterschiede schärfen soll. Danach zieht sich das Thema weiter durch alle Semester. Beispielsweise thematisieren die Veranstaltungen unterschiedliche Medikamentenwirkungen bei Mann und Frau oder geschlechtsspezifische Erkrankungen.

Prof. Herrmann: Ganz zentral sind zudem sogenannte «KIT»-Veranstaltungen. Die Abkürzung steht für Kommunikation, Interaktion und Teamarbeit. Diese Inhalte ziehen sich als Längsschnittbereich durch das ganze Studium. Die Studierenden lernen dabei, ihre Rolle in Gesprächssituationen zu reflektieren. Dabei setzen sie sich auch mit Stereotypen und geschlechtsbedingten Vorannahmen auseinander.

Prof. Stadler: Die Gendermedizin gehört an der Charité übrigens mit zum Prüfungsinhalt. Das hat Relevanz, denn das Studium ist ja recht überfrachtet. Was in Prüfungen abgefragt wird, bleibt vielleicht ein bisschen länger hängen.

Was würden Sie Kritikern entgegnen, die meinen, das Studium sei schon zu voll, um stärker auf die Gendermedizin einzugehen?

Prof. Stadler: Die Gendermedizin ist ohnehin ein Querschnittsbereich. Es geht nicht darum, noch mehr Inhalte in das Studium zu bringen, sondern darum, die Inhalte, die wir schon lehren, aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Es geht also nicht um Entweder-Oder, sondern um eine Umgewichtung. Dafür müssen keine Inhalte gestrichen werden.

Haben Sie den Eindruck, dass es manchen widerstrebt, die Gendermedizin schwerer zu gewichten?

Prof. Stadler: Einige Leute sind unsicher und meiden das Thema, weil sie nichts falsch machen möchten. Letzten Endes haben wir aber alle das Ziel, die Patientenversorgung zu verbessern. Sobald klar wird, dass das durch einen geschlechtersensiblen Ansatz erreicht werden kann, sind alle schnell im Boot. Wir müssen also wegkommen von der Angst, etwas Falsches zu sagen, und hin zu dem Ziel, Forschung und Lehre gemeinsam zu verbessern. Grundsätzlich erleben wir eine grosse Aufgeschlossenheit. Je jünger Kolleginnen und Kollegen oder Studierende sind, desto offener stehen sie der Gendermedzin gegenüber und fragen aktiv danach.

Prof. Herrmann: Mir scheint es auch so, dass die Studierenden sehr aufgeschlossen sind. Ich habe dieses Semester einen Kommunikationskurs geleitet und beim Sprechen das Gendersternchen benutzt. Bei der Feedbackrunde gaben mehrere Studierende explizit an, wie gut sie das finden. Das hat mich sehr überrascht.

Wo steht die Forschung zur Gendermedizin und wie schnell entwickelt sie sich?

Prof. Stadler: Sie stellt noch ein kleines Feld dar, wächst aber rapide. Momentan haben wir noch ganz wenige gesicherte Erkenntnisse, etwa im Herz-Kreislauf-Bereich, bei Osteoporose, chronischem Schmerz, COVID-19 oder zu Fragen des Kinderwunschs. Aber das sind noch ganz kleine Inseln des Wissens.

Mit welchen Schwierigkeiten hat die geschlechterspezifische Forschung zu kämpfen?

Prof. Stadler: Wir haben ganz massive Datenlücken. Das Geschlecht und andere Diversitätsdimensionen werden bei medizinischen Studien oft nicht miterhoben. Deswegen wissen wir momentan auch nicht, ob bestimmte Gruppen besonders oft wegen Covid-19 auf Intensivstationen behandelt werden. Das machen andere Länder besser, beispielsweise Kanada. Dort muss das Geschlecht in der Forschung sogar mit abgefragt werden, unabhängig vom Erkenntnisinteresse. Bislang können wir oft nur prüfen, ob das Wissen aus anderen Ländern übertragbar ist.

Prof. Herrmann: In Grossbritannien müssen Hausärzte das Geschlecht und die sexuelle Orientierung ganz selbstverständlich abfragen, beispielsweise im Anamnesebogen. Das hat den Vorteil, dass man Patientinnen und Patienten nicht zu einem Coming-Out in der Sprechstunde zwingt. Diese Massnahme erlebt dort grosse Akzeptanz. Natürlich ist es ein zweischneidiges Schwert: Man möchte niemanden diskriminieren und sobald man Daten von jemandem hat, kann man sie missbrauchen. Wenn man sie aber nicht erhebt, kann man auch keine Unterschiede aufzeigen.

Wie könnte man die Datenlücke schliessen?

Prof. Stadler: Wir bauen gerade hier in Berlin ein Expertise-Netzwerk auf, das sich damit beschäftigt, wie man Geschlecht und Diversität in Studien besser erfassen kann. Eine Idee wäre, bei jedem Datensatz, auch bei Doktorarbeiten, das Geschlecht und andere Diversitätsdimensionen mit aufzunehmen. Das wäre eine ganz billige Möglichkeit, um die Datenlücken endlich anzugehen. Zusätzlich sollten wir in der Lehre dann vermitteln, wie diese Dimensionen auszuwerten sind. Da müssen wir also systematisch was machen, als Wissenschaftssystem. Am Ende würden wir das aus diesen Daten generierte Wissen dann in die Leitlinien der ärztlichen Versorgung übertragen. Das wäre der Traum.

Interview: Dr. Anja Braunwarth und Isabel Aulehla