Medical Tribune
8. Apr. 2021Drehtag mit Tonproblemen

Ein Blick hinter die Kulissen des Morbus Menière

Aus dem Studium kennt man vom Morbus Menière wohl vor allem die sogenannte «Menière-Trias»: Drehschwindel-Attacken, einseitiges Ohrgeräusch und einseitiger Hörverlust. Das Krankheitsbild geht aber wesentlich weiter.

Pathophysiologisch liegt bei der Menière-Erkrankung ein endolymphatischer Hydrops vor, also eine Ansammlung von Endolymphe im häutigen Labyrinth des Innenohrs. Dessen Ursache ist aber noch unklar, erklären Dr. Mansur Kutlubaev von der Abteilung für Neurologie der Bashkir State Medical University im russischen Ufa und seine Kollegen. Als Ursache infrage kommen z.B. Autoimmunreaktionen, Virusinfekte, Funktionsstörungen des autonomen Nervensystems und/oder genetische Faktoren.

Typischerweise gilt der Morbus Menière als progrediente idiopathische Erkrankung – dennoch sollte man eventuelle (seltene) Ursachen zumindest im Hinterkopf haben und abklären, denn sie sind behandelbar: beispielsweise ein vestibuläres Schwannom, eine Labyrinthitis oder eine Meningitis. Wenn Sie einen relativ jungen Patienten mit der typischen Trias in Ihrer Sprechstunde sehen – Kinder sind nur sehr selten betroffen –, liegt die Diagnose bereits nahe. Dazu kommt ein Nystagmus in Richtung des betroffenen Ohrs, der während einer Attacke aber auch zeitweise in die Gegenrichtung und schliesslich erneut zur betroffenen Seite umschlagen kann. Als sicher gilt die Diagnose bei

  • mindestens zwei spontanen Drehschwindel-Episoden, die jeweils 20 Minuten bis zwölf Stunden anhalten
  • Innenohrschwerhörigkeit mit Hörverlust von mindestens 30 dB im tiefen und mittleren Frequenzbereich im Audiogramm
  • fluktuierenden Symptomen im betroffenen Ohr (Hörverlust, Tinnitus, Druckgefühl)
  • Ausschluss anderer vestibulärer Erkrankungen mit entsprechenden Beschwerden

Dazu können autonome Störungen wie Tachykardien, Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen kommen.

Den Patienten trockenlegen

Beim Dehydratationstest erfolgt zunächst ein übliches Audiogramm, das die Innenohrschwerhörigkeit zeigt. Danach erhalten die Patienten ein Diuretikum, z.B. Glycerin 1 ml/kgKG. Anderthalb und drei Studien später wird das Audiogramm wiederholt. Hat sich die Schwerhörigkeit um mindestens zehn Dezibel verbessert, gilt der Test als positiv und spricht für eine Menière-Erkrankung.

Langfristige Therapie erfolgt in fünf Stufen

Allerdings gibt es auch monosymptomatische Formen der Menière-Erkrankung. Zunächst ist entweder nur das Hörvermögen oder der Gleichgewichtssinn gestört. Im Lauf der Zeit ist dann auch das jeweils andere Organsystem betroffen. Haben Sie beispielsweise einen Patienten, der schon längere Zeit über Schwerhörigkeit klagt und nun auf einmal Gleichgewichtsstörungen entwickelt, liegt häufig ein Morbus Menière vor. Neben der Klinik unterstützt ein positiver Dehydratationstest die Diagnose (s. Kasten).

Dennoch dürfen Sie die folgenden Differenzialdiagnosen nicht einfach abhaken:

  • transitorische ischämische Attacke bzw. Schlaganfall im hinteren Hirnstromgebiet
  • Autoimmunerkrankungen
  • Infektionen (z.B. Syphilis, Borreliose)
  • Migräne (wobei Migräne und Menière zusammen bestehen können)
  • Otosklerose

Zunächst behandelt man in der Regel die Akutsymptome, zum Beispiel mit Anticholinergika, Benzodiazepinen oder Antiemetika. Für die langfristige Therapie empfiehlt sich ein stufenweises Vorgehen:

  1. Es ist wichtig, den Patienten darüber aufzuklären, dass er nicht an einer Gehirnerkrankung, sondern an einer Störung im Innenohr leidet – das nimmt ihm schon mal einen gewaltigen Druck von der Seele. Danach kommen Veränderungen des Lebensstils ins Gespräch. Betroffene sollten ihren Salz-Konsum reduzieren (1–1,5 g/Tag), Koffein, Alkohol und Zucker möglichst meiden und die Wasserzufuhr steigern. Auch körperliche Aktivität ist zu empfehlen. Ebenso sollten Menière-Patienten ausreichend lang schlafen (mindestens acht Stunden) und Stress abbauen. Medikamente umfassen Betahistin und/oder Diuretika, die jeweils die Schwindel-Anfälle mindern sollen. Kalziumkanalblockern wird mitunter ein positiver Effekt nachgesagt. Kortikosteroide als Kurzzeittherapie kommen für die schweren Fälle infrage. Sie erhalten eine Woche lang 1 mg/kgKG, danach wird die Behandlung über ein bis zwei Wochen ausgeschlichen.
  2. Als nächste Option kommt die intratympanale Injektion von Kortikoiden infrage (Dexamethason oder Prednisolon nach verschiedenen Schemata).
  3. Ist die konservative Therapie erfolglos, kann man chirurgische Massnahmen andenken, die den Druck der Endolymphe vermindern.
  4. Erst wenn alle bisher genannten Massnahmen nicht gewirkt haben, sollte man an Medikamente denken, die das periphere vestibuläre System irreversibel ausschalten, z.B. Gentamicin intratympanal. Oft resultiert daraus ein Hörverlust. Daher gilt es, vorher eine ausreichende kontralaterale Innenohrfunktion zu sichern.
  5. Chirurgische destruktive Massnahmen wie eine Labyrinthektomie und Resektion des N. vestibularis kommen als letzter Schritt infrage, wenn alle anderen Optionen versagt haben. Bei beidseitigem Hörverlust können die Operateure in gleicher Sitzung ein Cochlea-Implantat einsetzen.

Gleichgewichtssinn und Stabilität verbessern

Schliesslich gibt es Reha-Programme, die den Gleichgewichtssinn und damit die Stabilität, etwa beim Stehen und Gehen, verbessern. Vor allem nach irreversiblen Massnahmen haben sie ihren Wert und können Alltagsaktivitäten wieder möglich machen.

Kutlubaev MA et al. Pract Neurol 2020; doi: 10.1136/practneurol-2020-002734