Medical Tribune
29. Juni 2020Ingestion von Säure und Lauge richtig behandeln

Ätzende Notfälle

Vor Ihnen sitzt eine besorgte Mutter mit ihrem Kleinkind, das vom Putzmittel getrunken hat. Der geschwollene Mund und die veränderte Stimme deuten auf eine Verätzung. Das sind nun die wichtigsten Schritte.

Kleines Kind will mit chemischem Reiniger spielen
iStock-154210048_H_Barth

Während Erwachsene Säuren oder Laugen häufig vorsätzlich bzw. in suizidaler Absicht trinken, passiert es bei Kindern in der Regel als Unfall im häuslichen Umfeld. Meistens trifft es Kleinkinder bis zu einem Alter von fünf Jahren. Die Verätzungen von Erwachsenen fallen üblicherweise schwerwiegender aus, da sie deutlich grössere Mengen zu sich nehmen als der Nachwuchs, schreibt ein Team um den Toxikologen Professor Dr. Robert­ S. Hoffman­, New York University Langone Health. Einer Studie mit 214 Verätzungs­opfern zufolge mussten von den 39 % der eingewiesenen Kinder nur 8 % stationär behandelt werden. Von den 48 % der Erwachsenen waren es hingegen 81 %.

Als säure- oder laugenhaltige Gefahrenquelle rangieren vor allem Haushaltsreiniger ganz weit oben, die bei Kontakt mit Schleimhäuten teilweise schwere Gewebeschäden verursachen. In den USA beispielsweise müssen jährlich etwa 1000 Kinder im Schnitt vier Tage im Spital bleiben, weil sie Waschmittel, Toiletten- oder Rohrreiniger getrunken haben. Um derartige Unfälle zu vermeiden, sollten Eltern alle Reinigungssubstanzen ausserhalb der Reichweite von ihren Zöglingen aufbewahren. Das gilt auch für Batterien. Denn leckt der Nachwuchs an der Kontaktstelle der Batterie, kann dies in einer lebensgefährlichen Alkalivergiftung münden.

Hitzeschäden durch Neutralisieren des pH-Werts

Der Verletzungsgrad hängt u.a. vom pH-Wert der Flüssigkeit ab. Dabei schaden Säuren mit einem pH-Wert < 2 und Laugen mit einem pH-Wert > 12 am meisten. Der Körper will grundsätzlich wieder seinen gewohnten pH-Wert herstellen, die Lösungen also neutralisieren. Die daraus meist resultierende exotherme Reaktion löst dann Hitzeschäden aus. Auch die Konzentration, die Menge der eingenommenen Flüssigkeit und die Dauer des Körperkontakts beeinflussen die Verletzungsschwere. Während Verätzungen mit Säuren zu Koagulationsnekrosen führen, spalten Laugen Fette und gelangen so in tiefe Schichten, die sie schädigen. Am häufigsten betroffen sind Haut, Augen und Atmungs- sowie Verdauungsorgane.

Zunächst gilt es, klinisch instabile Patienten zu stabilisieren und falls nötig zu intubieren. Bei der körperlichen Untersuchung sollten Kollegen auf mögliche Gewebeschäden insbesondere im Gesicht sowie in der Mundhöhle achten. Aber auch Verletzungen anderer Hautpartien durch Spritzer und auslaufende Flüssigkeiten darf man nicht übersehen. Deshalb: Kleider bei jedem entfernen und die Haut mit viel Wasser spülen. Im Fall einer Augenbeteiligung beinhaltet Letzteres auch die Augen. Zudem sollte umgehend ein Augenarzt hinzugezogen werden.

Da Kleinkinder meist aufgrund ihres kleinen Mundes nur geringe Mengen an Reinigungsmitteln trinken, haben sie deshalb auch seltener gastroösophageale Verletzungen. Eine äusserliche Unversehrtheit schliesst eine gast­roösophageale Beteiligung jedoch nicht aus, betonen die Autoren. Diese ist insbesondere bei etwas älteren Kindern und Erwachsenen sehr wahrscheinlich, wenn der Oropharynx betroffen ist.

Im Verdachtsfall sollte man genügend Flüssigkeit (Elektrolyte!) zuführen und auf eine ausreichende Analgesie achten. Die Experten raten davon ab, den Magen auszupumpen, dies kann die Verletzung verschlimmern. Auch gegen eine Neutralisation sprechen sie sich aus, da die Vorteile unklar, verschiedene Risiken jedoch belegt sind. Falls eine Endoskopie erforderlich ist, sollte diese innerhalb der ers­ten 24–48 Stunden erfolgen.

Kinder, bei denen die Untersuchung unauffällig oder nicht indiziert ist, können nach sechs Stunden Monitoring das Spital verlassen. Alle anderen Patienten werden mindestens für 24 Stunden überwacht, um zu sehen, wie sie orale Ernährung tolerieren. Während man bei Verletzungen Grad 1–2A, z.B. Ödemen oder oberflächlichen Ulzerationen, bereits wieder mit einer flüssigen Ernährung starten kann, sollten Kollegen mit dieser ab Grad 2B, z.B. tiefen Ulzerationen, noch warten. Schwere Verätzungen mit kleinflächigen Nekrosen erfordern aufgrund des Risikos weiterer Komplikationen wie Infektionen, Perforationen, Elektrolytverschiebungen eine längere stationäre Überwachung sowie ggf. parenterale Ernährung.

Jährliche Nachsorge bei schweren Verätzungen

Der Effekt einer Steroidtherapie auf die Narbenbildung ist umstritten. Einer Untersuchung zufolge scheinen vor allem Kinder mit tiefen Ulzerationen nach Laugenverätzungen von einer dreitägigen Behandlung mit Methylprednisolon zu profitieren. Eine prolongierte Steroidtherapie erachten die US-amerikanischen Forscher weder bei Säure- noch bei Laugenverätzungen als sinnvoll.

Für Sucralfat und Mitomycin C können die Autoren aufgrund der nicht ausreichenden Datenlage keine eindeutige Empfehlung aussprechen. Das Zytostatikum birgt jedoch das Langzeitrisiko für eine Entwicklung maligner Tumoren. Während kleinere Verletzungen keiner Nachsorge bedürfen, sollten bei Patienten mit schwereren Verätzungen jährlich endoskopische Kontrollen erfolgen, da sie ein erhöhtes Risiko für Strikturenbildung und Ösophaguskarzinome haben.

Auf diese Beschwerden ­achten

  • Speichelfluss
  • Schluckstörungen
  • Schwellung von Zunge/Mund
  • Husten
  • veränderte Stimme
  • Stridor
  • starke Schmerzen in Mund, ­Kehle, Brust und/oder Abdomen
  • Erbrechen
  • Blutungen
  • Mediastinitis bzw. Peritonitis

Hoffman RS et al.
N Engl J Med 2020; 382: 1739–1748.