Medical Tribune
18. März 2020Deprivation beim Kleinkind hat Folgen bis ins Erwachsenenalter

Vernachlässigung schrumpft das Hirn

Ex­treme Vernachlässigung im frühen Kindesalter erhöht das Risiko für psychische Krankheiten­. Zudem scheint das Trauma das Gehirn auch sichtbar zu verändern. Entdeckt hat man das bei rumänischen Waisenkindern.

Einsamer Teddybär sitzt im dunklen Raum (Konzept über die Liebe)
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Ein natürliches Langzeitexperiment nannten es die Autoren damals: 1990, kurz nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Rumänien, wurden zahlreiche Kinder aus rumänischen Heimen von britischen Eltern adoptiert. Die Entwicklung von 165 dieser Waisen, die in den Einrichtungen bis zu 43 Monate zum Teil extrem vernachlässigt dahinvegetiert waren, hatte das Team um Professor Dr. Edmund J. S. Sonuga­-Barke von der Universität Southampton damals bis ins junge Erwachsenenalter beobachtet.

Die Mehrzahl der Kinder, die länger als ein halbes Jahr im Waisenhaus gelebt hatten, litten sogar nach mehr als zwanzig Jahren unter psychischen Problemen und kamen in Beruf und Schule schlecht voran, berichteten die Wissenschaftler vor drei Jahren.1 In einer Folgestudie hat Prof. Sonuga-Barke nun zusammen mit Dr. Nuria K. Mackes vom Londoner King’s College und weiteren Forschern untersucht, inwieweit sich in den MRT-Gehirn-Aufnahmen der einstigen Waisen Erklärungen dafür finden liessen. 67 der nun Erwachsenen hatten sich dieser Untersuchung unterzogen, ihre Befunde wurden mit denen von 21 einst adoptierten Briten ohne üble Heimerfahrung verglichen.2

Je länger im Heim, desto geringer das Volumen

Im Schnitt war das Gehirnvolumen der ehemaligen rumänischen Waisen um 8,6 % kleiner als das der Adoptierten aus der Kontrollgruppe, stellten die Wissenschaftler fest. Der Unterschied war umso grösser, je länger Erstere in den Heimen gelebt hatten. Jeder zusätzliche Monat in der Einrichtung bedeutete ein Minus von drei weiteren Kubikzentimetern Hirnvolumen, das entspricht etwa 0,27 % des Organs. Die Veränderungen gingen mit einem verminderten IQ und vermehrten ADHS-Symptomen einher.
Vor allem medial präfrontal und im unteren Frontallappen zeigten sich solche Verluste, also in Regionen, die für die Organisation, Motivation sowie das Integrieren von Informationen und das Gedächtnis zuständig sind. Der rechte inferiore Temporallappen war bei den einst vernachlässigten Studienteilnehmern dagegen vergrössert. Wahrscheinlich als Versuch des Gehirns, die Schäden zu kompensieren, vermuten die Wissenschaftler, da ein solcher Befund mit verminderten ADHS-Symptomen assoziiert war.

Derartige Effekte könnten auch erklären, warum manche Heimkinder weniger von der Vernachlässigung betroffen zu sein scheinen als andere. Ein Fünftel derjenigen, die länger als sechs Monate Deprivation erlebt hatten, er­wiesen sich nämlich in der ersten Studie später als psychisch unauffällig.

Toxischer Stress führt zu neuronalen Narben

Eine genetische Prädisposition, den Ernährungs­zustand oder die Körpergrösse schlossen die Wissenschaftler als Ursachen für die Veränderungen weitestgehend aus. Womöglich, spekulieren sie, handelt es sich um eine Art von neuronalen Narben aufgrund des toxischen Effekts von Stress auf das sich entwickelnde Gehirn. Aber die Ergebnisse weisen auch darauf hin, betonen sie, dass das Gehirn mit seiner Plastizität in der Lage ist, selbst solche Traumata weitgehend zu kompensieren.

1. Sonuga-Barke EJS et al. Lancet 2017; 389: 1539–1548.
2. Mackes NK et al. Proc Natl Acad Sci USA 2020; 117: 641–649.