Medical Tribune
16. Sept. 2019Patienten von paranoiden Gedanken befreien

Mit virtueller Realität gegen den Wahn

Paranoide Gedanken lassen sich am Computer in der virtuellen Realität bekämpfen. Gerade bei computeraffinen Menschen ist die Therapie eine sinnvolle Ergänzung.

Der Patient geht eine Strasse entlang, eine Strasse, die es nicht wirklich gibt. Sie ist im Computer simuliert, der Patient sieht sie durch eine VR(virtual reality)-Brille. Der Patient sieht einen Passanten und ist überzeugt: Der Mann ist vom amerikanischen Geheimdienst und verfolgt ihn. Auch die Frau auf der anderen Strassenseite gehört mit dazu. «Die schauten beide ganz böse – da bin ich mir sicher!», berichtet er seinem Psychologen. Doch der korrigiert ihn und zeigt ihm Bilder der Personen: «Nein, der Mann hat einen neutralen Gesichtsausdruck, und die Frau blickt freundlich.» Der Psychologe Professor Dr. Steffen Moritz vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf behandelt den Patienten mit Hilfe der virtuellen Realität. Gerade hat er seine nächste Studie hierzu abgeschlossen1. «Wir sehen, dass mit dieser Behandlung der Verfolgungswahn deutlich reduziert wird», so Prof. Moritz. Die Ergebnisse sollen in Kürze veröffentlicht werden.

Wahngedanken liessen in virtueller Realität nach

Untersucht hat sein Team 80 Patienten mit Schizophrenie. Alle wurden zweimal jeweils eine Stunde in der virtuellen Realität behandelt und fanden sich in zufällig ausgewählten Szenen wieder, z.B. auf der Strasse (s. Abb.). Nach der Behandlung wurden die Teilnehmer gefragt, welchen Gesichtsausdruck die Passanten hatten.

Bei der Hälfte der Studienteilnehmer korrigierte oder bestätigte der Therapeut die Wahrnehmung des Patienten, bei den übrigen nicht. «Das Problem bei Wahnvorstellungen ist nämlich, dass die Patienten überzeugt sind, ihre Wahrnehmung sei richtig», sagt Prof. Moritz. «Diese Überkonfidenz möchten wir reduzieren.» Noch ist nicht klar, wie wichtig die Richtigstellung der Therapeuten ist: In beiden Gruppen liessen die Wahngedanken nach jeder Sitzung immer mehr nach. Hilft also bereits das Eintauchen in die virtuelle Realität?

Für gesunde Menschen ist schwer vorstellbar, wie sehr Menschen mit Paranoia unter ihren Verfolgungsgedanken leiden. «Das ständige Gefühl, die Mitmenschen seien feindselig gesinnt, ist schwer zu ertragen und verursacht grosse Angst», sagt Professor Dr. Gregor Hasler, Chefarzt Freiburger Netzwerk für Psychische Gesundheit und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg. «Hinzu kommt, dass keiner die Angst teilt – das löst oft Wut oder Scham aus.» Ein Besuch im Café oder eine Fahrt mit dem Bus ist für viele unmöglich. Die Betroffenen gehen kaum noch unter Leute, haben keinen Partner und verlieren ihren Job.

Als Standard der Behandlung gilt eine kognitive Verhaltenstherapie. Damit sollen sich die Betroffenen in die angstauslösenden Situationen begeben und etwa im Café etwas bestellen oder beim Bäcker einkaufen. Doch eine solche Konfrontationstherapie wirkt oft nur mässig. Zum einen lässt sich die Reaktion des Umfeldes nicht vorhersagen – vielleicht reagieren Bedienung oder Verkäuferin unfreundlich, und der Patient fühlt sich in seiner Wahnvorstellung bestätigt. Zum anderen ist der Therapeut auf die Erzählungen des Patienten angewiesen, und im Nachhinein könnte dieser die Situation positiver oder negativer beurteilen. Viele haben schlichtweg auch zu grosse Angst, sich hinauszubegeben.

Erfolgreiches Konzept bei Angststörungen

Auch Forscher der Universität in Amsterdam lassen daher ihre Patienten die angstmachenden Situationen in einer virtuellen Umgebung üben, in welcher der Therapeut die Situation kontrollieren kann. Dieses Konzept wird bereits erfolgreich bei Angststörungen eingesetzt. In der Amsterdamer Studie2 bekamen 166 Patienten eine Standardbehandlung aus Medikamenten und regelmässigen Besuchen beim Therapeuten, aber keine spezifische Psychotherapie. Die Hälfte wurde zusätzlich am Computer behandelt. Sie setzten sich eine spezielle Brille auf und waren damit in virtuellen Umgebungen, die ihnen Angst machten, etwa im Café, auf der Strasse, im Bus oder im Supermarkt. Der Therapeut konnte mit der Software bis zu 40 Computer-Personen auftreten und sie neutral oder feindselig reagieren lassen. Er liess sie bestimmte Sätze sagen oder dem Patienten direkt in die Augen schauen, was bei Wahnvorstellungen grosse Angst auslösen kann.

Während der Patient in der virtuellen Welt war, berichtete er von seinen misstrauischen Gedanken. Der Therapeut ermutigte ihn, den Augenkontakt mit den Computer-Personen zu halten, mit ihnen zu kommunizieren, statt sich zu entfernen, und half ihm zu verstehen, dass seine argwöhnischen Gedanken nicht stimmten. Nach der dreimonatigen Behandlung hatten die in der virtuellen Therapie behandelten Patienten weniger Wahn und Angst. «Unser Gehirn scheint keinen grossen Unterschied zwischen virtueller Realität und der realen Welt zu machen, wenn es um Situationen geht, die für uns von existenzieller Bedeutung sind», sagt Nexhmedin Morina, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Münster, der seit Jahren über Expositionstherapie in der virtuellen Realität forscht. «Wenn ich in der realen Welt Menschen misstraue, tue ich dies auch bei virtuellen Menschen.» Prof. Morina sieht einige Vorteile der virtuellen Welt: «Wir können die Behandlung besser auf die Patienten zuschneiden und die Computerpersonen zum Beispiel das Gleiche sagen lassen wie die inneren Stimmen beim Patienten.» Den Patienten falle es leichter, sich auf eine virtuelle Exposition einzulassen. «Man kann die Konfrontation ja jederzeit unterbrechen», sagt Prof. Morina.

Professor Dr. Peter Falkai, Chefpsychiater an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, lobt die bisherigen Studien. «Wir werden die Behandlung in der virtuellen Realität bei einigen Patienten versuchen. Vor allem für junge, computeraffine Patienten wäre das eine gute Option.»

Es gibt noch Verbesserungspotenzial

Dennoch: Bisher ist aber noch nicht klar, welche der virtuellen Welten besser ist und ob diese Behandlung effektiver ist als klassische Psychotherapie – dazu gibt es noch nicht genügend Untersuchungen. Auch die Therapie an sich ist noch zu verbessern: In der Amsterdamer Studie verbrachten die Patienten danach nicht mehr Zeit mit anderen Menschen und empfanden immer noch ihr soziales Umfeld als bedrohlich. «Objekte und Räume lassen sich bereits hervorragend simulieren, aber bei Mimik und Gestik hapert es noch», sagt Prof. Moritz. Er wäre aber schon froh, wenn Menschen mit Wahn überhaupt die Standard-Therapie bekämen, nämlich eine Konfrontations-Therapie.

Ist Paranoia ein evolutionärer Vorteil?

Während Therapeuten noch über die richtige Behandlung diskutieren, suchen Wissenschafter nach der Ursache der Paranoia. Forscher vom University College in London sehen sie als evolutionären Vorteil, um in der modernen Gesellschaft klarzukommen, und zwar mit der Bedrohung durch Grüppchenbildung.3 Menschen schliessen sich in Gruppen zusammen, wodurch andere stigmatisiert und ausgegrenzt werden. In ständiger Angst ausgeschlossen zu werden, spüren die Menschen Druck, sich ebenfalls einer Gruppe anzuschliessen und andere entweder als Verbündeten oder als Bedrohung anzusehen. «Fühlt man ständig diese soziale Bedrohung, kann das durchaus das Risiko erhöhen, dass man irgendwann Verfolgungsgedanken entwickelt», sagt Prof. Falkai. «Dazu passt, dass eine Schizophrenie sich meist im jungen Erwachsenenalter entwickelt zur Zeit der Cliquen- und Grüppchenbildungen.» So ist es auch typisch, dass sich Verfolgungsgedanken oft auf konkrete Gruppen beziehen, zum Beispiel die Nachbarn oder der Amerikanische Geheimdienst.

Die Londoner Forscher beschreiben das, was bei anderen psychischen Problemen als «psychiatrisches Kontinuum» bezeichnet wird: «Wir sehen sämtliche Symptome bei psychischen Störungen als normale menschliche Phänomene, also als ein Kontinuum menschlichen Verhaltens», sagt Prof. Morina. «Es wird erst dann pathologisch, wenn es am äusseren Rand des Kontinuums liegt und Leiden verursacht und der Verfolgungswahn beispielsweise zu sozialer Isolation und so grosser Angst führt, dass man nicht mehr raus geht.» Jeder Mensch habe irgendwann mal paranoide Gedanken, bestätigt Prof. Hasler. «Psychologisch hat das den Vorteil, dass alle Probleme von aussen kommen und man selbst das Opfer ist. Es erhöht auch das Selbstwertgefühl, denn man ist ja wichtig, weil alle einen verfolgen.»

Der Preis dafür ist aber hoch: Offene, bereichernde soziale Beziehungen sind nicht mehr möglich, wenn man ständig davon ausgeht, die anderen würden sich gegen einen verschwören. «Ein guter Realitätssinn ist langfristig hilfreicher als paranoides Denken», sagt Prof. Hasler. «Den kann man auch in der virtuellen Realität trainieren.»

Referenzen:

  1. https://www.drks.de/drks_web/navigate.do?navigationId=trial.HTML&TRIAL_ID=DRKS00013947
  2. Pot-Kolder R et al.; Lancet Psychiatry 2018; 5: 217–226.
  3. Raihani NJ et al. Nature Human Behaviour 2019; 3: 114–121.