Medical Tribune
27. Feb. 2019Erste zielgerichtete Therapie beim Glioblastom.

Herr Professor Weller, was erwarten Sie von der neuen Substanz?

Die finalen Daten der INTELLANCE-2-Studie zeigen einen positiven Einfluss von ABT 414, einem Antibody-Drug-Konjugat von AbbVie, auf das Gesamtüberleben beim Glioblastom. Die Studie wurde von der European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) durchgeführt. Professor Dr. Michael Weller, Klinikdirektor der Klinik für Neurologie, Universitätsspital Zürich, Leiter der EORTC Brain Tumor Group, ist an dem Studienprogramm beteiligt. Medical Tribune Onkologe & Hämatologie hatte die Gelegenheit, ihm Fragen zu dem neuen Therapiekonzept zu stellen.

Was ist derzeit das grösste Problem, das sich beim Glioblastom dem Neuro-Onkologen stellt?

Prof. Weller: Das grösste Problem ist, dass es seit 2005 kaum Fortschritte in der spezifischen Therapie des Glioblastoms gegeben hat. Allerdings haben wir grosse Fortschritte im Verständnis der molekularen Pathogenese gemacht. Es gibt wenige Tumorerkrankungen, bei denen man so genau weiss, an welchen Stellen des Genoms die Erkrankung aus dem Gleis läuft, aber pharmakologisch werden wir dem Glioblastom bislang nicht Herr. Wir haben eine Dekade hinter uns mit nicht erfolgreichen pharmakologischen Studien, bei denen die Hoffnung immer wieder enttäuscht wurde. Das ist für alle Beteiligten frustrierend, besonders natürlich für die Patienten und deren Angehörige. Die Chemotherapie mit Temozolomid ist seit 2005 Standard. Ein Drittel der Patienten profitiert davon. Das sind die Patienten mit MGMT-Promoter-Methylierung, die den DNA-Schaden nicht reparieren können, welchen die Temozolomid-Therapie setzt. Aber wenn man die Fortschritte beim Glioblastom mit denjenigen beim Melanom oder NSCLC vergleicht, sind wir bei der Entwicklung weit zurück.

Mit ABT-414 ist eine neue Option in der Pipeline. Die Substanz hat einen speziellen Wirkmechanismus. Würden Sie uns diesen erklären?

Prof. Weller: ABT-414 oder Depatux-M ist ein Antibody-Drug-Konjugat (ADC). Die Substanz besteht aus einem sehr potenten Toxin, das an einen Antikörper gekoppelt ist. Dieses Konjugat wird von der Zelle als Ganzes aufgenommen, und erst in der Zelle wird das Toxin freigesetzt. Der EGF-Rezeptor ist das Zielmolekül. Die Bindung an das Zielantigen an der Zelloberfläche führt zur Internalisierung. Man kann das mit einem trojanischen Pferd vergleichen: Das Konjugat erkennt das Oberflächen-Antigen, die Zelle nimmt das ganze Konjugat auf, in der Zelle wird die Linker-Region zwischen dem Antikörper und dem Toxin gespalten, und das Toxin tötet diese eine Zelle, ohne Nachbarzellen zu beeinflussen.

Wie sieht die Studienlage zu ABT-414 aus?

Prof. Weller: In einer Phase-IStudie hat man bei einer gewissen Rate von Patienten ein Ansprechen auf die Therapie mit ABT 414 gesehen und eine Aktivität gemessen am progressionsfreien Überleben nach sechs Monaten, dem Standard-Endpunkt im Rezidiv. Man hat auch gesehen, dass die Substanz nur dann wirkt, wenn es eine gewisse Expression an EGFR gibt. Beim Glioblastom kann das Gen für EGFR amplifiziert sein, d.h., es liegen statt einer z.B. zehn oder vierzig Kopien vor, dadurch wird oft auch zehn- oder vierzigmal so viel Protein an der Zelloberfläche gebildet. Es kann aber auch sein, dass aus einem anderen Grund viel EGFR gebildet wird. Im Anschluss wurde die INTELLANCE-2-Studie gestartet, die ABT-414 in der 2. Linie im Rezidiv untersucht und mittlerweile abgeschlossen ist. Die finalen Daten wurden am SNO 2018, dem Jahreskongress der Society of Neuro-Oncology in New Orleans, präsentiert. Weiterhin gibt es noch die INTELLANCE-1-Studie, die voll rekrutiert, aber noch nicht ausgelesen ist. In dieser Studie wird ABT-414 in der Primärtherapie untersucht. Die Ergebnisse erwarten wir in einem Jahr.

Wie ist das Studiendesign von INTELLANCE-2 konzipiert?


Prof. Weller: Die EGFR-Amplifikation aus dem Primärtumor musste nachgewiesen sein. Ein neuer Nachweis aus dem Rezidiv war nicht nötig, da sich beim Glioblastom ein amplifizierter Tumor vermutlich nie zu einem nichtamplifizierten Tumor verändert. In einem Arm wurde ABT-414 als Monotherapie eingesetzt, in einem anderen Arm ABT-414 mit Temozolomid kombiniert, was sich retrospektiv als günstig erwiesen hat. In dem Kontrollarm erhielten die Patienten Lomustin, wenn sie in den 16 Wochen seit dem Start des letzten Temozolomid-Zyklus progredient wurden. Wenn sie das Rezidiv später bekamen, dann wurden sie noch einmal mit Temozolomid behandelt. Man hat aber nicht die Konsequenz gezogen und bei den Spätrezidiven auf ABT-414 plus Temozolomid und bei den Frührezidiven auf ABT-414 plus Lomustin randomisiert, was vermutlich sinnvoller gewesen wäre. Der Verzicht darauf erklärt diesen etwas seltsamen Kontrollarm, der Subgruppenanalysen komplizierter macht.

Und wie sehen die Ergebnisse der INTELLANCE-2-Studie aus?

Prof. Weller: Das Follow-up wurde im Oktober 2018 geschlossen. Die mediane Nachbeobachtung für das OS betrug 28,7 Monate mit 260 Patienten in der Intention-to-treat-Population. Bei der ersten Auswertung mit 199 Ereignissen am SNO 2017 war die Studie ganz knapp nicht signifikant – also formal negativ – mit einer Hazard Ratio von 0,71 (95 % CI: 0,50–1,02) und p = 0,06. Aber das Signal war da, dass der Kombinationsarm besser ist als der Chemotherapie-Arm. Jetzt, bei der finalen Auswertung am SNO 2018 mit 237 Ereignissen, ist die Studie signifikant mit einer Hazard Ratio von 0,66 (95 % CI: 0,47–0,93) und einem p = 0,016. Puristen würden von einer post-hoc explorativen Analyse sprechen. Hätte man mit der ersten Analyse länger gewartet und mehr Ereignisse auswerten können, hätte man den Endpunkt getroffen. Ein weiteres Fazit ist aber: Beim Gesamtüberleben gab es keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen der Monotherapie mit ABT-414 und der Chemotherapie mit Temozolomid oder Lomustin. Die Monotherapie ist folglich nicht besser als der Standard of Care. Statistisch signifikant besser ist nur die Kombination von ABT-414 plus Temozolomid versus Chemotherapie mit Temozolomid oder Lomustin.

Was bedeuten die Ergebnisse der INTELLANCE-2-Studie?

Prof. Weller: Der Unterschied beim OS nach ≥ 24 Monaten von 5,2 Prozent versus 19,8 Prozent – Chemotherapieversus Kombinationsarm – ist gravierend und spricht für Aktivität. Das finde ich ermutigend. Seitdem die Studie beendet ist, haben wir ein Compassionate-Use-Programm, in dem uns AbbVie ermöglicht, Patienten mit EGFRAmplifikation mit ABT-414 zu behandeln. Das haben wir vereinzelt in Anspruch genommen. Die Studie hat gezeigt, dass die Substanz etwas tut. Aber wir brauchen eine weitere ergänzende Studie, in der die Kombination von ABT-414 plus Lomustin im ersten Rezidiv untersucht wird. Wir benötigen die Daten, weil viele Ärzte im Rezidiv Temozolomid nicht erneut einsetzen möchten. Wir sind in den Gesprächen mit AbbVie recht weit, dass wir so eine Studie vielleicht durchführen werden.

Wie sieht derzeit die Behandlung bei Versagen der Primärtherapie aus?

Prof. Weller: In der Regel geben wir in der zweiten Linie Lomustin. Bevacizumab wird von den meisten Zentren eher in der letzten Linie gegeben, weil danach Lomustin und auch andere Therapien nicht mehr wirksam sind. In der Schweiz, wo Bevacizumab für die Indikation zugelassen ist, bedeutet das, dass die meisten Patienten beim ersten Rezidiv Lomustin erhalten, insbesondere wenn der Tumor MGMT-Promoter-methyliert ist. Bei einem sehr grossen Rezidiv mit viel Raumforderung ist Bevacizumab vorteilhafter, ggf. auch in Kombination mit CCNU. Etwa 20 Prozent der Patienten werden reoperiert, teilweise werden die Patienten auch erneut bestrahlt. Falls ABT-414 in der 2. Linie nicht mehr wirkt, folgt meist Bevacizumab.

Der MGP-Promoter-Status spielt bei ABT-414 keine Rolle?

Prof. Weller: Er spielt mutmasslich keine Rolle für die Wirkung von ABT-414, wird aber standardmässig bestimmt. Wir gehen davon aus, dass bei den nicht MGMT-methylierten Patienten Temozolomid und Lomustin in der Regel nicht wirksam sind. Bei diesen Patienten war ABT-414 allein nicht besser als die Alkylanzien. Aber bei den gleichen Patienten wirkt die Kombination von ABT-414 plus Temozolomid besser im Vergleich zum Alkylans allein. Warum das so ist, verstehen wir noch nicht.

Wie sieht es mit den Nebenwirkungen aus?

Prof. Weller: Unter ABT-414 kommt es bei einem Drittel der Patienten zu okulärer Toxizität, die wir sehr ernst nehmen. Nach meiner Kenntnis ist kein Patient erblindet, aber die Toxizität ist schmerzhaft, die Sicht verschwommen, und das betrifft Patienten, die mit ihrer obligat letalen Erkrankung schon Sorgen genug haben. Es wird derzeit viel versucht, die Toxizität abzufangen, vom Antidot bis hin zu pharmakologischen Änderungen der Substanz. Ursächlich sind wohl minimalste Mengen an Toxin, die ausserhalb der Zellen freigesetzt werden und die Cornea irritieren, offensichtlich die empfindlichste Stelle im Organismus für dieses Toxin. Vielleicht gelingt es, den Linker noch etwas stabiler zu machen. Aber er darf natürlich nicht so stabil sein, dass er in der Zelle nicht mehr aufgebrochen werden kann. Ich bin zuversichtlich, dass diese Problematik lösbar ist. Andere Nebenwirkungen sind nicht relevant.

Wie lautet Ihre Take-Home-Message?

Prof. Weller: Wenn ABT-414 zugelassen wird, muss sich AbbVie stark in der ärztlichen Fortbildung engagieren und es sollte auch ein Patientenregister initiiert werden. ABT-414 ist die erste zielgerichtete Therapie beim Glioblastom mit überzeugenden Hinweisen, dass sie tatsächlich wirkt. Nach vielen Enttäuschungen haben wir jetzt ein zielgerichtetes Konzept. Die INTELLANCE 2-Studie ist ein interessantes Modell der Kooperation zwischen Pharmaindustrie, namentlich der Firma AbbVie, und der European Organisation for Research and Treatment of Cancer, EORTC. Die EORTC hat die Studie durchgeführt und besitzt die Hoheit und die Kontrolle über die Daten. Das erhöht die Glaubwürdigkeit der Studie. ABT-414 ist eine Hoffnung bei einer Indikation, bei der bislang sehr viel erfolglos getestet wurde, auch immunonkologische Studien waren bislang frustrierend. So ist ABT-414 ein positives Signal für unser Gebiet.

EORTC Brain Tumor Group

Die EORTC Brain Tumor Group (BTG) initiiert und führt akademische klinische Studien an Patienten mit Hirntumoren durch und konzipiert die damit verbundene translationale Forschung. Ihre Strategie ist es, Versorgungsstandards in den Bereichen der diagnostischen und therapeutischen Neuro-Onkologie zu definieren und zu entwickeln, wobei der Schwerpunkt auf diffusen Gliomen des Erwachsenenalters der WHO-Stufen II bis IV und auf Meningeomen liegt. WHO-Grad IV-Gliome oder Glioblastome sind die bösartigsten diffusen Gliome. Das mediane Überleben liegt bei etwa einem Jahr.