Medical Tribune
20. Mai 2016Konsens oder Staatsmedizin?

Urabstimmung zum revidierten ambulanten Tarif

Die neue TARMED-Tarifstruktur soll die ärztlichen Leistungen sachgerecht, betriebswirtschaftlich und gesetzeskonform abbilden. Noch bis zum 28. Mai können die FMH-Mitglieder diesbezüglich ihre Stimme abgeben. Eine Mehrzahl der Mediziner scheint sich allerdings gegen die Vorlage auszusprechen, was ein bundesrätliches Diktat mit sich bringen dürfte.

Unlängst hat die FMH eine Urabstimmung angeordnet, um die Stellungnahme der ordentlichen Mitglieder zum revidierten ambulanten Tarif einzuholen. Seit der Einführung des TARMED im Jahr 2004 konnte dieser nicht den betriebswirt-schaftlichen Vorgaben angepasst werden, was dazu geführt hat, dass eine entsprechende An-passung in Angriff genommen werden musste.

Seit nunmehr sechs Jahren stellt die FMH eine entsprechende Revision und Aktualisierung un-ter anderem in Zusammenarbeit mit dem Spital-verband H+, der Medizinaltarif-Kommission (MTK) sowie über 26 Fachteams auf die Beine. «Die Erarbeitung der revidierten Tarifstruktur «atms-tms- Version 1.0» stellt die Grundlage für eine zukünftige funktionierende Tarifpartnerschaft dar.

Die Vorgaben des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zeigen deutlich, dass nach 2014 ein weiterer staatlicher Tarifeingriff folgen wird, falls bis zum 30. Juni 2016 keine konsensfähige und sachgerechte ambulante Tarifstruktur eingereicht werden kann», sagt Dr. Urs Stoffel, Chirurg und FMH-Vorstandsmitglied, mit Nachdruck. Dieses Szenario könnte sich bald bewahrheiten, wen man den zunehmenden Widerstand in Ärztekreisen beobachtet.

Fachgesellschaften zurückhaltend 

Ein gemeinsam in Auftrag gegebenes Gutachten des Krankenkassenverbandes Santésuisse und der neuen FmCh Tarifunion bestehend aus 23 Fachgesellschaften und Vereinen kommt zum Schluss, dass die revidierte Tarifstruktur TARMED für frei praktizierende Ärzte und ambulante Behandlungen in den Spitälern die Anreize zur Mengenausweitung erhöht und damit Ineffizienz begünstigen würde.
Auch die Ärztegesellschaft des Kantons Zürich (AGZ) zeigt sich gegenüber der erarbeiteten Vorlage skeptisch und hofft auf eine Verlängerung der Beratungszeit um weitere sechs Monate, um doch noch eine für sämtliche Akteure mehr oder weniger befriedigende Lösung erzielen zu können.

Dr. Josef Widler, AGZ-Präsident und Facharzt für Allgemeinmedizin moniert: «Die Hausärzte stellen den revidierten Tarif arg in Frage und sind der Meinung, dass ihr finanzieller Anteil ungenügend berücksichtigt wurde. Obwohl deren Kosten kontinuierlich gestiegen sind, vermochten sie immer weniger pro Stunde zu verrechnen und das Ziel sollte darin bestehen, dieses Ungleichgewicht endlich zu korrigieren. Gleichzeitig müssen die Spezialisten mit einem erheblichen materiellen Verlust rechnen, was sie ihrerseits nicht akzeptieren können.» Zudem würden manche Fachärzte vorziehen, einen Teil ihrer Leistungen zu pauschalisieren, was zumindest geprüft werden müsse.

Die Tarif-Verantwortlichen bemühten sich jedoch primär darum, einen Einzelleistungskatalog zu revidieren. Die stationären Positionen, welche via DRG zur Abrechnung gelangen, wurden zwischenzeitlich eliminiert, um eine reine ambulante Tarifstruktur erarbeiten zu können.  «Wenn bestimmte Fachgesellschaften nun die Meinung vertreten, beispielsweise für gewisse Operationen Pauschalen einzuführen und ent-sprechende Verträge mit den Krankenkassen abzuschliessen, stellt dies keine erhebliche Hürde dar, so Dr. Stoffel.

Es stellt sich zudem die Frage, ob es künftig noch mehr Vertragsabschlüsse mit den Krankenkassen geben könnte, doch dürfen es keine Einzelleistungen sein. Innerhalb eines Netzwerkvertrags ist es jedoch ausserhalb von TARMED möglich, mit bestimmten Auflagen ei-ne Tagespauschale zu vereinbaren.

Ärzteschaft in der Kritik 

Apropos Versicherungen: Nach Ansicht von Dr. Widler sähen sich die Ärz-te seitens der Krankenkassen mit dem Vorwurf konfrontiert, unnötige Leistungen zu vollbrin-gen und zu hohe Kosten zu verrechnen. Man dürfe nicht vergessen, dass sich auch die Patienten verändert hätten, indem diese vermehrte Leistungen fordern und die medizinischen Angebote allzu oft mit einem Selbstbedienungsladen verwechseln würden. 

Die Mediziner selbst könne man bezüglich Kostenerhöhungen nicht immer zur Verantwortung ziehen und demnach sei es auch keineswegs angebracht, deren Stundenlöhne senken zu wollen. Eine solide Lösung kann laut Dr. Widler nur erarbeitet werden, wenn sich der Patient zunehmend an seinen Kosten beteiligen muss zum Beispiel in Form eines Krankenscheins, der darin besteht, dass der Ratsuchende dem Arzt bei jeder ersten Konsultation beispielsweise hundert Franken bezahlen soll.
Doch anhand dieser Aussage muss man auch die Frage in den Raum stellen, ob sich die Katze nicht in den Schwanz beisst, sprechen sich die Ärzte doch dafür aus, die medizinischen Angebote sämtlichen Leistungsnehmern zugänglich zu machen.

Das Reizwort Zweiklassenmedizin gerät somit wieder an die Oberfläche und diese wird besonders befürchtet, sollte sich aufgrund einer fehlenden Einigung innerhalb der Ärzteschaft eine Staatsmedizin durchsetzen, welche die Mediziner auch in die Rationierung drängen könnte.  Ob hiermit Erhalt und Wertschätzung ärztlicher Freiberuflichkeit und mehr Transparenz aufrechterhalten werden kann, dürfte mehr als fraglich sein.

Dr. Stoffel schliesst eine verstärkte Zweiklassenmedizin nicht aus, was jedoch im ambulanten Bereich nicht vorgesehen sei. Zudem könne man bereits von Eigenverantwortung sprechen, da festgelegte Franchisen und ein Selbstbehalt von 10 Prozent existieren würden.

Kritikpunkte gegenüber der revidierten Tarifstruktur gibt es jedenfalls genügend, einer davon ist auch die vieldiskutierte Kostenneutralität, die nach Ansicht von Dr. Widler keinesfalls als realistisch betrachtet werden kann.  Die beteiligten Vertragsparteien sorgen für die Bestimmung kostenneutraler Start-Taxpunktwerte pro Kanton/Region je getrennt für Leistungen in freier Praxis und für ambulante Leistungen in den Spitälern.  Während einer Einführungsphase von 18 Monaten werden die finanziellen Auswirkungen von TARMED kontrolliert. «Sollte festgestellt werden, dass ein Kostenschub die Folge ist, werden entsprechende Massnahmen ergriffen», ergänzt Urs Stoffel.

Kostenneutralität bedeute nun ein-mal nicht, ein Wachstum vollständig auszu-schliessen. Vielmehr stehe die damit verbundene Erhöhung im Zentrum.  «Wir wissen, dass wir jährlich eine Kostensteigerung von vier bis fünf Prozent in Kauf nehmen müssen, was sich nicht in Form eines Tarifeingriffs beeinflussen lässt, sondern unter anderem auch auf demografische Veränderungen zurückzuführen ist. Es existieren korrigierende Massnahmen, indem man den Taxpunktwert herunterholt oder das Taxpunktvolumen normiert», so das FMH-Vorstandsmitglied.

Verbesserungsvorschläge gefragt 

Die Zürcher Ärztegesellschaft erarbeitet derzeit ein Grundlagenpapier mit dazugehörigen Vorschlägen in Bezug auf eine Kosten- und Leistungsanalyse. Bislang fehlen jedoch konkrete Gegenmassnahmen, was die revidierte Tarifstruktur betrifft.

Dr. Widler setzt sich insbe-sondere für die Aufwertung des ärztlichen Gesprächs ein und schlägt vor, die technischen Leistungen zurückzufahren. Auch dürfe man nicht vergessen, dass auch die EDV-Einrichtungen viel Geld kosten und bis jetzt nir-gendwo berücksichtigt worden seien.
Tatsache ist auch, dass der Arzt als Unternehmer ein immer grösseres finanzielles Risiko trägt, den Weg in die Selbstständigkeit immer seltener wählt und eine sichere Anstellung bevorzugt.

So oder so dürften die Ärzte aber ihre Entscheidungsfreiheit verlieren, sollten sie der vorgeschlagenen Tarifstruktur nicht zustimmen.  Dr. Stoffel muss sich täglich mit Hunderten von E-Mails, Beschimpfungen und Reklamationen herum-schlagen und fügt an: «Die Tariffrage löst emotionale Diskussionen aus, was auch in anderen Branchen der Fall ist. Doch im Bereich der Medizin nehmen die Menschen dieses Thema stärker wahr, weil auch die Krankenkassenprämien eng damit verknüpft sind, welche jeder Bürger bezahlen muss, ob er nun krank ist oder nicht.»