Medical Tribune
1. Juli 2012Sexuelle Übergriffe und Grenzverletzungen

Sexuelle Übergriffe endlich offen aufs Tapet bringen

Eine Patientin, die sich Hilfe suchend an einen Psychotherapeuten wendet und von ihm sexuell missbraucht wird – das ist für die Deutsche Gesellschaft für Verhaltensthe­rapie e.V. (DGVT) ein durchaus reales "Horrorszenario". 

"Wir gehen davon aus, dass sich sexuelle Übergriffe und Grenzverletzungen bei bis zu 5 % der psychotherapeutischen Behandlungen ereignen", erklärte Professor Dr. Irmgard Vogt aus Frankfurt von der Fachgruppe Frauen der DGVT gegenüber Medical Tribune. Damit ist von rund 300 Fällen pro Jahr auszugehen.
 
Zwar wird das Thema trotz aller Aufklärungsbemühungen auch heutzutage weitgehend tabuisiert. Laut Professor Vogt wurde aber dennoch viel erreicht: "Noch in den 1990er Jahren ging man von einer Häufigkeit  sexueller Übergriffe von bis zu 10 % während psychotherapeutischer Sitzungen aus."

Schon in der Ausbildung sexuelle Übergriffe thematisieren

Vor allem die Verankerung entsprechender Grenzverletzungen im Strafrecht dürfte nach ihrer Meinung dazu beigetragen haben, dass sich die Situation offenbar etwas entspannt hat. Sexuelle Übergriffe kommen trotzdem weiterhin vor, so Prof. Vogt, und: "Wir müssen folglich weiter dafür kämpfen, dass sie immer seltener werden." 

Dazu soll auch die von den Teilnehmern einer DGVT-Fachtagung in Hannover verabschiedete Resolution beitragen. Eine der zentralen Forderungen: Das Thema "Sexuelle Übergriffe" bei Therapie und Beratung soll als verbindlicher Baustein im Ausbildungskatalog festgeschrieben werden. Ausserdem sollen kostenfreie, niedrigschwellige und professionelle  Beratungsmöglichkeiten für Betroffene etabliert und das Thema im geplanten Patientenrechtegesetz verankert werden.

In der Resolution wird weiterhin gefordert, die Diskussion um Misserfolge und unerwünschte Nebenwirkungen in der Therapie zu intensivieren und die Verjährungsfristen für sexuelle Übergriffe und Grenzverletzungen im Strafrecht und im Berufsrecht zu verlängern, berichtete Prof. Vogt.

"Immer wieder den Finger in die Wunde legen"

Interview mit Professor Dr. Irmgard Vogt, Frankfurt

Ist die Schätzung, bei bis zu 5 % der psychotherapeutischen Behandlungen gebe es sexuelle Übergriffe, realistisch?

Prof. Vogt: Leider ja, wenngleich die Schätzungen weit auseinandergehen. Die letzten systematischen Untersuchungen zu dieser Frage stammen aus den 1990er Jahren. Schon damals waren die Ergebnisse mit einer erheblichen Schwankungsbreite behaftet. Realistisch dürfte in der damaligen Zeit eine Häufigkeit von 10 % gewesen sein. Das hat sich inzwischen geändert und wir gehen von 1 % bis maximal 5 % aus, was aber immer noch sehr unbefriedigend ist.

Spielt es eine Rolle, ob der Patient / die Patientin mit den sexuellen Handlungen einverstanden ist?

Prof. Vogt: Die Aufnahme sexueller Handlungen im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung ist grundsätzlich ethisch verwerflich und das ganz unabhängig davon, ob sie mit oder ohne Einverständnis des Patienten erfolgt. Die Aufnahme einer sexuellen Beziehung ist dem Therapeuten durch die ethischen  Richtlinien seine Berufsstandes untersagt. Der sexuelle Missbrauch in Therapie und Beratung ist seit 1998 als Straftatbestand mit dem §174c im Strafgesetzbuch verankert.

Wie sollte der Therapeut vorgehen, wenn es zunehmend zu Nähe und möglicherweise auch zu Verliebtheit kommt?

Prof. Vogt: In praktisch jeder psychotherapeutischen Behandlung entsteht Nähe, damit arbeitet die Psychotherapie ja direkt. Das muss den Therapeuten bewusst sein und sie dürfen dies keinesfalls gegenüber dem Patienten respektive der Patientin ausnutzen. Die Psychotherapeuten müssen die ethischen Grundsätze ihres Berufsstandes einhalten, Distanz wahren und das auch auf der emotionalen Ebene. Sie wissen um die Problematik, müssen sich korrekt verhalten und dürfen auf gar keinen Fall ein sexuelles Verhältnis mit den Patienten eingehen. Das gilt auch dann, wenn ihrerseits eine gewisse Verliebtheit oder gar Liebesgefühle entstehen. In einem solchen Fall müssen sie sofort Supervision nachfragen und unter Umständen die therapeutische Behandlung an eine Kollegin weitergeben.

Wie lange nach Abschluss einer psychotherapeutischen Behandlung darf ein Therapeut kein sexuelles Verhältnis mit dem ehemaligen Patienten aufnehmen?

Prof. Vogt: Die Frage, wie lange nach einer Therapie kein sexuelles Verhältnis aufgenommen werden darf, wird kontrovers diskutiert. Es gibt die Auffassung, dass ein solches Verhältnis nach einer Psychotherapie lebenslang tabu sein muss. Allgemein wird bei den Psychotherapieverbänden gesagt, dass mindes­tens zwei Jahre nach Abschluss der Behandlung vergehen sollten, ehe Therapeut und Patient ein Verhältnis miteinander aufnehmen dürfen. Strafrechtlich ist die Frage nach Abschluss der Behandlung irrelevant.

Was droht den Patienten im Falle eines sexuellen Missbrauchs in der Psychotherapie?

Prof. Vogt: Die Folgen für die Betroffenen sind enorm und vergleichbar denen bei sexuellen Übergriffen und Handlungen in der Kindheit. Es kommt oft zu massiven Scham- und Schuldgefühlen, die Patienten denken in aller Regel, sie seien schuld an den Übergriffen, obwohl de facto die Verantwortung hierfür eindeutig beim Therapeuten liegt. Die betroffenen Patienten erleben meist eine hohe emotionale Verunsicherung, entwickeln ein tiefes Misstrauen gegenüber Beziehungen und es resultiert ausserdem oft das Gefühl des Zurückgewiesen-Werdens. Es können Depressionen auftreten mit nicht zu unterschätzendem Suizidrisiko. Der sexuelle Übergriff bahnt zudem nicht selten einem Alkohol- und/oder Medikamentenmissbrauch den Weg. Und was droht den Therapeuten?

Prof. Vogt: Entsprechend der ethischen Richtlinien in den Psychotherapieverbänden wird ein Therapeut seine Lizenz verlieren, wenn eindeutig ein sexueller Missbrauch vorliegt. Selbstverständlich muss der Therapeut, der von einem Patienten oder einer Patientin angezeigt wird, nach §174c mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Zu bedenken aber ist, dass in aller Regel die Aussage des Patienten gegen die des Therapeuten steht und das Verfahren dürfte in solchen Fällen ähnlich verlaufen wie es bei einem Prozess aufgrund einer Anzeige wegen Vergewaltigung bekannt ist. Liegen keine eindeutigen Beweise vor, dass es zu einem sexuellen Übergriff gekommen ist, sind die Anzeigenden in einer schwierigen Rolle, was ihnen bewusst sein muss. Die Hürde, eine Strafanzeige zu stellen, ist sehr hoch. Dies erklärt, warum es bislang nur sehr wenige Strafverfahren in diesem Bereich gegeben hat.

Was muss generell geschehen, damit das Thema aus der Tabuzone herausgeholt wird?

Prof. Vogt: Wir dürfen die Problematik nicht totschweigen, sondern müssen uns und der Öffentlichkeit immer wieder bewusst machen, dass sexuelle Übergriffe und Grenzverletzungen auch im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung und Beratung vorkommen können. Das Thema muss verbindlich in den Curricula verankert werden, also im Rahmen der Ausbildung zwingend behandelt werden. Davon abgesehen, müssen wir immer wieder den Finger in die Wunde legen, so wie wir es mit der Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie und der dort formulierten Resolution getan haben.