Medical Tribune
19. Aug. 2022Schweizer Herzkongress 2022

Für mehr Teamwork in der Kardiologie

Die Schweizerischen Gesellschaften für Kardiologie (SSC) und Herzchirurgie (SSCS) hatten zum gemeinsamen Präsenzkongress nach St. Gallen eingeladen. Wir sprachen mit Kongresspräsidentin Prof. Dr. Gabriela Kuster Pfister, Universitätsspital Basel, über ihre persönlichen Kongress-Highlights. Neben neuen Empfehlungen und diversen Wirkstoffinnovationen gibt es dabei auch den Wunsch für mehr Zusammenarbeit – mit dem Patienten und mit anderen Disziplinen.

Medizinisches Seminar, Konferenz mit Ärzten. Präsentation eines Herzes.
iStock/Nadezhda Buravleva

Prof. Gabriela Kuster Pfister, Leiterin Kardio-Onkologie und translationale Forschung am Universitätsspital Basel


Medical Tribune: Wie haben Sie die Stimmung und Atmosphäre am Kongress empfunden? Hatten Sie auch den Eindruck, dass viele Teilnehmer den persönlichen Kontakt und Austausch während der Pandemie erkennbar vermisst haben?

Prof. Kuster Pfister: Ja absolut! Ich persönlich fand es extrem schön, wie positiv – beinahe enthusiastisch – die Teilnehmenden auf unseren Präsenzkongress reagiert haben. Nachdem der Kongress vorletztes Jahr ausfiel und im vergangenen Jahr im Digitalformat stattfinden musste, war die Begeisterung unverkennbar. Auch unsere Entscheidung gegen einen Hybridkongress erwies sich somit als richtig. Wir waren natürlich auch erleichtert, dass unser Angebot angenommen wurde, und rund 1.400 Teilnehmer – Ärzte, andere an der Kardiologie Interessierte und Aussteller – nach St. Gallen kamen.


Was war Ihre persönliche Herzensangelegenheit als Kongresspräsidentin?

Mir ging es besonders darum, sich vor Ort gemeinsam zu informieren, auszutauschen und zu interagieren. Daher auch das übergeordnete Motto des SSC/SSCS 2022: «Collaborative Decision Making», was einerseits bedeutet, den Patienten und seine Bedürfnisse in das therapeutische Management einzubeziehen (shared decision making); und auf der anderen Seite wollen wir den interdisziplinären und interprofessionellen Aspekten in der Kardiologie noch besser gerecht werden. Dem Teamwork in der Kardiologie muss die Zukunft gehören. Erfreulicherweise haben viele Referenten dieses Thema dann auch aufgegriffen.

Ausserdem haben wir neue Formate eingeführt, wie die «Guidelines-into-Practice»-Sessions, die den Dialog zwischen Kardiologen im Spital und niedergelassenen Kollegen fördern und vereinfachen sollen. Ziel ist eine raschere Implementierung der Guidelines im Praxisalltag. Zusätzlich haben wir auch schwierige Themen diskutiert. So haben wir beispielsweise der «Polypharmazie versus Guideline-Adherence» eine «PRO»-und-«CONTRA»-Session gewidmet. Als weiteres für mich wichtiges Thema möchte ich Aspekte des «Aging» erwähnen: von der Risikostratifizierung älterer kardiovaskulärer Patienten bis hin zu Norm- und Grenzwerten, z.B. bei Hypertonie, und zur Behandlung hochbetagter Patienten. Mit den neuen Formaten wollten wir weg vom Frontal-Vortrag, hin zum interaktiven Austausch, was gut ankam.

Mir liegt natürlich die Kardio-Onkologie sehr am Herzen; am Kongress konnten wir beispielsweise das Swiss Cardio-Oncology Booklet vorstellen, mit Download-Möglichkeit von der Webpage der Arbeitsgruppe «Herzinsuffizienz». Dort finden sich Hinweise für die Risikostratifizierung und das kardiovaskuläre Monitoring von Tumor-Patienten. Übrigens werden entsprechende ESC-Guidelines im Spätsommer erwartet.

Was gab es Neues in der interventionellen Kardiologie?

In der interventionellen Kardiologie waren es die ESC-Guidelines zur Behandlung von Herzklappenerkrankungen, wo es vor allem zu Änderungen bei der Interventionsschwelle von asymptomatischen Aortenstenosen kam. Heisse Diskussionen gab es zur Indikation für die TAVI (Transkatheter-Aortenklappen-Implantation), die gemäss den neuen Guidelines grosszügiger gestellt werden kann. Die Diskrepanz zwischen Klasse I-Indikation für die TAVI einerseits und einer BAG-Limitatio auf der anderen Seite wirft noch Probleme auf. Viele Studie laufen zurzeit noch, welche die TAVI mit dem chirurgischen Prozedere vergleichen. Auf deren Resultate darf man gespannt sein.

Welchen Innovationen in der Elektrophysiologie räumen Sie ein Zukunftspotenzial ein?

Sehr spannend ist aus meiner Sicht das «conduction system pacing», für das uns zwar noch keine Studien mit harten Endpunkten vorliegen, doch werden dieser Technologie gute Zukunftsperspektiven eingeräumt – gerade bei der Resynchronisierung. Bei der Katheterablation werden neue Ablationsenergien diskutiert; so wurde die «pulsed field ablation» vorgestellt, die gewebeselektiver sein soll und bei Vorhofflimmern eingesetzt werden kann. Der N. phrenicus oder der Ösophagus – so die bisherige Erfahrung – werden weniger in Mitleidenschaft gezogen.

Wo stehen wir in der kardiovaskulären Primärprävention? Und weshalb klafft immer noch eine so grosse Lücke zwischen dem grundsätzlich Machbaren und dem in der Praxisrealität Erreichten

In der Primärprävention sind die neuen Scores zur Risikostratifizierung erwähnenswert, wie der SCORE2 oder der SCORE2-OP (older persons), die eine interaktive Risikostratifizierung – auch bei älteren Patienten – gestatten. Für das häufige Scheitern in der Praxis wird in erster Linie die geringe Erfolgsquote bei der Lebensstil-Modifikation genannt. Wenn es jedoch gelingt, auf das Rauchen zu verzichten, sich adäquat – mediterran – zu ernähren und körperliche Aktivität zur täglichen Selbstverständlichkeit zu machen, zeigt die Primärprävention beachtliche Erfolge.

Als Dauerbrenner erwies sich das Thema Lipidsenkung. Sehen Sie neue Perspektiven?

Auf diesem Gebiet zeichnen sich spannende Entwicklungen ab – einerseits mit den PCSK9-Inhibitoren und der Bempedoinsäure, und natürlich mit Inclisiran, einem neuartigen First-in-Class-Medikament. Auf die Daten weiterer Studien mit harten Endpunkten darf man gespannt sein. Die gesamte kardiovaskuläre Medizin könnte von solchen Innovationen profitieren.

Die SGLT2-Hemmer haben einen Karrieresprung gemacht – wie beurteilen Sie deren Potenzial in der Kardiologie?

Das ist eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte, die mich fasziniert. Für den Erfolg sind vor allem die gute Verträglichkeit und Sicherheit verantwortlich – und SGLT2-Hemmer sind die ersten Medikamente, die über das gesamte Spektrum der Herzinsuffizienz einen prognostischen Benefit gezeigt haben. Der geringe Effekt auf den Blutdruck wird ebenfalls geschätzt, was den Einsatz bei älteren, fragilen Patienten erlaubt. Bemerkenswert ist auch der sich rasch abzeichnende Benefit.

Ein grosses Thema war die Herzinsuffizienz – was war besonders eindrücklich für Sie?

Natürlich, wie bereits erwähnt, waren es die SGLT2-Hemmer als vierte Säule der Therapie. Nachdem über Jahre vor allem Device-basierte Massnahmen für den Fortschritt verantwortlich waren, gewinnen nun Medikamente wieder an Bedeutung. Neben den SGLT2-Hemmern hat auch Sacubitril/Val­sartan (ARNI) zu dieser Trendwende beigetragen. Ich finde auch den Paradigmenwechsel bei der Therapie-Implementierung erwähnenswert: Die neuen ESC-Guidelines 2021 haben den Step-up-Approach – mit Auftitrierung der einzelnen Medikamente – verlassen, zugunsten des frühen parallelen Einsatzes der «fantastischen Vier» (ACE-Hemmer/ARNI, Betablocker, Mineralokortikoid-Rezeptor-Antagonisten und SGLT2-Hemmer). Weiterhin ist wichtig, dass die klinische Bewertung der Kongestion und die Pathophysiologie wieder mehr im Vordergrund stehen, anstelle der rein EF-basierten Beurteilung.

Besten Dank für das Gespräch!