Medical Tribune
18. Juli 2022Polypharmazie im Alter

«Patienten lassen oft die wichtigsten Medikamente als erstes weg.»

Ältere und multimorbide Patienten werden oft mit fünf oder mehr Arzneimitteln behandelt. Dabei kDie Polypharmazie kann vor allem im Alter gefährlich werden, denn ältere Menschen sind aufgrund von altersphysiologischen Veränderungen anfälliger für Arzneimittelnebenwirkungen. Dr. Marion Baumann, Chefärztin Geriatrie im Spital Uster, ist überzeugt, dass geriatrische Pharmakotherapie-Konzepte in therapeutische Entscheidungen miteingebunden werden sollten und plädiert für eine altersadaptierte Medizin in der Hausarztpraxis.

Tabletten Wochenorganisier-Box überfüllt mit Tabletten, vor weissem Hintergrund
iStock/cglade

Mit dem Alter steigt das Risiko für chronische Krankheiten. Wenn multimorbide Patienten nach krankheitsspezifischen Guidelines behandelt werden, werden häufig viele und hoch dosierte Medikamente eingesetzt (1). Diese Polypharmazie ist schon allein deshalb ein Problem, weil ältere und multimorbide Menschen meist von klinischen Studien ausgeschlossen sind, auf deren Basis gängige Therapieempfehlungen basieren (2,3). Für die Behandlung älterer und multimorbider Menschen ist es also wichtig, dass nicht nur die krankheitsspezifische Evidenz, sondern auch die individuellen Bedürfnisse des Patienten sowie die klinische Erfahrung in die Therapieentscheidung miteinfliessen.

Dr. Marion Baumann
zVg

Dr. Marion Baumann, Chefärztin Geriatrie, Spital Uster

Medical Tribune: Frau Dr. Baumann, die Reduktion oder das Belassen einer Medikation ist eine individuelle Entscheidung – Polypharmazie scheint also ein grosses Thema in der Geriatrie zu sein?
Dr. Baumann: «Die Polypharmazie ist individuell zu betrachten, genauso wie die Geriatrie und jeder Patient individuell zu betrachten sind. Das chronologische und biologische Alter weichen oft voneinander ab. Im Alter nehmen die Medikamenteninteraktionen zu, da sich die Metabolisierung verlangsamt, kleinere Dosierungen reichen meist aus. Ein Beispiel sind die Statine bei über 80-jährigen: Deren Anwendung sollte kritisch hinterfragt und individuell abgewogen werden.»

Gibt es dazu hausärztliche Leitlinien? Wie wird es bei Ihnen im Spital gehandhabt?
Wir beobachten, dass die Adhärenz abnimmt, je mehr Medikamente verschrieben werden, durchschnittlich bereits ab vier bis fünf Medikamenten pro Tag. Patienten treffen dann oft eine falsche Selektion und lassen wichtige Medikamente als erste weg. Eine potenziell inadäquate Medikation im Alter wird als Risikofaktor für unerwünschte Arzneimittelereignisse angesehen. Die PRISCUS-Liste kann als Hilfsmittel für Ärzte genutzt werden. Sie beinhaltet Dosierungsangaben sowie Informationen über allfällige Interaktionen (4). Die Beers-Liste (5) ist ein zusätzliches Instrument zur Optimierung der Arzneimitteltherapie in der Geriatrie. Sie beinhaltet eine Auflistung von Medikamenten, die Patienten über 65 Jahre nicht erhalten sollten. Es handelt sich vor allem um Medikamente, bei denen es insbesondere bei älteren Menschen vermehrt zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen kommen kann.

Was wünschen Sie sich von den behandelnden Hausärzten bezüglich der Betreuung von älteren Patienten?
Der Hausarzt hat eine wichtige Triagefunktion - Hausärzte dürfen und sollen diese auch wahrnehmen und ihre Position stärken können. Der Geriater ist sozusagen der Hausarzt des alten Menschen. Oft werden, vielleicht auch aus Zeitmangel oder aus dem Wunsch nach mehr Sicherheit heraus, Patienten weiter zum Spezialisten geschickt. Das führt tendenziell zu mehr Abklärungen, welche zwar indiziert sein können, aber nicht unbedingt im Fokus stehen und dem alten Menschen in seiner individuellen Lebenssituation oft nicht dienlich sind.

Ich würde dem behandelnden Hausarzt zu Mut raten, da er den Patienten oft über Jahre kennt: Er sollte darauf vertrauen dürfen, dass er den Patienten nicht gleich zum Spezialisten überweisen muss. Das Gespräch mit dem Patienten ist zentral: Was bedeutet für ihn Lebensqualität, was ist ihm wichtig. Ältere Patienten haben oft sehr klare Vorstellungen von Lebensqualität, von Würde und auch vom Sterben. Meist sind sie sich ja wohl bewusst, dass das Leben endlich ist – hingegen vielleicht nicht immer der behandelnde, oft noch jüngere Arzt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Literatur
  1. Dumbreck S, et al. Drug-disease and drug-drug interactions: systematic examination of recommendations in 12 UK. national clinical guidelines. BMJ 2015;350:h949.
  2. Boyd CM, et al. Clinical Practice Guidelines and Quality of Care for Older Patients With Multiple Comorbid Diseases Implications for Pay for Performance. 2005;294(6):716-724.
  3. Jadad AR, To MJ, Emara M, Jones J: Consideration of multiple chronic diseases in randomized controlled trials. JAMA. 2011 Dec 28;306(24):2670-2. doi: 10.1001/jama.2011.1886. PMID: 22203536.
  4. PRISCUS-Liste, Stand 01.02.2011 (abgerufen am 01.07.2022).
  5. Beers-Liste, Stand 2015 (abgerufen am 01.07.2022).