Medical Tribune
18. Mai 2021Im Rausch der Lust

Chemsex: Auf der Suche nach Nähe, Befriedigung und Abhängigkeit

Ein Patient leidet immer wieder unter Müdigkeit, Schlafstörungen oder Verdauungsproblemen und lässt sich gerne Anfang der Woche krankschreiben? Nehmen Sie auch sein Sexleben unter die Lupe!

Tanzfläche voller Farbe mit Partygästen in Trance
istock.com/claudiio Doenitz

Beim Chemsex sollen Drogen das sexuelle Erleben steigern und dank ihres anästhetischen Effekts die «Aktivitäten» über ein ganzes Wochenende ermöglichen, berichtete Dr. Markus Gertzen von der Universitätsmedizin Augsburg. Sexuelle Befriedigung ist aber keineswegs immer die Hauptmotivation für die Einnahme der Substanzen. Nach Erfahrung von PD Dr. Tobias Rüther, Universität München, zählt für viele die mit Chemsex erlebte Nähe zu anderen, die in dieser Art vorher noch nie erreicht wurde. Manche wollen auch ihrem Alltag entfliehen und «alles vergessen», ergänzte Dr. Gertzen, der in München am Aufbau der Ambulanz für sexualisierten Substanzgebrauch beteiligt war. Und dann gebe es jene, die sich einer besonderen Gruppe zugehörig fühlen möchten.

Orgiastischer Zustand führt rasch in die Abhängigkeit

Aber ganz gleich, was die Konsumenten antreibt – harmlos ist Chemsex nicht, mahnte er. Das vergleichsweise einfache Erreichen eines entspannten oder orgiastischen Zustands führt schnell in die Abhängigkeit. Dies gilt für intravenös konsumierte Drogen noch mehr als für oral oder anal eingenommene (s. Kasten).

Zudem ist laut Aussage des Referenten das Risikoverhalten von Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), bei Chemsex besonders problematisch. Je mehr Drogen konsumiert werden, umso seltener werden einer Studie zufolge Kondome benutzt – auch der HIV-Serostatus interessiere weniger. Und zunehmend suchen die Beteiligten auf Datingplattformen nach unbekannten, zufälligen Sexualpartnern.

Eine Befragung in einem belgischen HIV-Test-Zentrum ergab, dass Chemsex bei MSM stark zugenommen hat. Diese Praktik komme gar nicht so selten vor, betonte auch Dr. Rüther. Dessen Kollege von der Chemsex-Ambulanz der Universität Tübingen, Dr. Carsten Käfer, ergänzte, dass die Nutzer keineswegs ausschliesslich jung seien. Er beschrieb seine typischen Patienten als «40 plus, gut gebildet und berufstätig». Er habe den Eindruck, dass viele in der Jugend keinen Partner gefunden haben und nun mit Chemsex versuchen, das zu bekommen, was sie brauchen.

Häufig suchen Chemsexkonsumenten einen Arzt aufgrund diffuser körperlicher Beschwerden auf und äussern den Wunsch, «sich mal durchchecken zu lassen», sagte Dr. Martin Viehweger von der ViRo – infektiologischen Schwerpunktpraxis und Trans*medizin in Berlin. Auch hinter einer depressiven Phase können sich seiner Erfahrung nach Probleme verstecken, die aus dem riskanten Sexualverhalten resultieren. Komorbide psychische Störungen seien keine Seltenheit. Betroffene mit Suchtproblematik benötigen daher spezifische Hilfe, vor allem weil viele sich sogar bei intravenösem Substanzgebrauch nicht als drogenabhängig ansehen.

Gruppensex im Lockdown weniger gefragt

Dr. Rüther berichtete, dass immer mehr Patienten zu ihm kommen, die sich im gegenwärtigen Lockdown eines Escortservices bedienen. «Sie rufen dort an und bezahlen mit PayPal. Dann kommt jemand mit Drogen, macht das, was der Betreffende will und geht wieder.» Sein Kollege Dr. Viehweger glaubt, dass dadurch ganz neue Probleme für Sexarbeiter entstanden sind, die häufig gezwungen werden, die Drogen ebenfalls zu konsumieren. Seiner Erfahrung nach kommt dies auch zunehmend bei heterosexuellem Verkehr vor. «Dann oft mit wenigen KundInnen und gleich mehreren Sexarbeitenden, die Kokain mitbringen. Das ist letztlich schon so wie eine Chemsex-Session», betonte er. Manchmal geht diese von Freitag bis Sonntag. Manche geben ihr ganzes Geld dafür aus und verarmen völlig, von dem hohen Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten ganz zu schweigen.

Stationärer Entzug in drei Phasen

In Hürth bei Köln gibt es bereits eine stationäre Rehabilitationseinrichtung für MSM mit abhängigem Chemsex-Konsummuster. Die Behandlung beinhaltet in einer ersten Phase der Stabilisierung den sogenannten «Reizschutz», also eine sexuelle Abstinenz. Zumindest über eine gewisse Zeit soll auch keine Pornografie genutzt werden. Wichtig ist, den Substanzkonsum vom Sex zu entkoppeln und sich einer substanzfreien Sexualität anzunähern. In der zweiten Phase erfolgt die «Exposition» und ab dem 29. Behandlungstag eine «Realitätsüberprüfung» am Wochenende im Lebensumfeld.

Anne Iking, Leiterin der Suchtabteilung der salus Klinik Hürth, berichtete über die Entlassjahrgänge 2015–2017. In einer Untersuchung waren 40 MSM mit Chemsex-konsum und eine über 1000 Personen starke Kontrollgruppe männlicher Suchtpatienten ohne substanzgestützten Sex verglichen worden. Zu Beginn der Therapie war die kleine MSM-Kohorte im Durchschnitt etwas älter, besser gebildet und eher berufstätig. Allerdings wies sie auch häufiger sexuell übertragbare Krankheiten wie HIV, Hepatitis C und Syphilis auf. Im Screening mit dem Brief Symptom Inventory ergaben sich für Chemsexkonsumenten höhere Werte in Unsicherheit, Depressivität, Ängstlichkeit, Aggressivität oder Psychotizismus als für die Kontrollen.

Von anal bis intravenös

Chemsex

Konsum von Substanzen im Rahmen sexueller Handlungen, v.a. Methamphetamin, Mephedron, Gymmahydroxybuttersäure/Gamma-Butyrolacton («K.o.-Tropfen»), teilweise Ketamin und Kokain

Slamsex

intravenöser Konsum dieser Substanzen im Rahmen sexueller Aktivität

Beide Patientenkohorten schlossen die Behandlung gleich häufig in der vorgesehenen Zeit ab. Zudem konnten jeweils gleichermassen viele als arbeitsfähig entlassen werden. Die Chemsex-User verbesserten sich darüber hinaus in sämtlichen Skalen des Brief Symptom Inventory, blieben mit ihrem Ergebnis insgesamt jedoch über den Werten der Vergleichsgruppe, berichtete Anne Iking. Ihrer Ansicht nach bestätigen diese Ergebnisse die Notwendigkeit der zielgruppenspezifischen Versorgung.

Die Frage, Abstinenzorientierung oder nicht, wird auch im Kontext Chemsexbehandlung kontrovers diskutiert. Laut Anne Iking ist das Wichtigste, Menschen mit chronifiziertem Konsum dabei zu helfen, ihr Leben in ihrem eigenen Sinne zu gestalten. Im Rahmen der Therapie sei Abstinenz zunächst wichtig. Doch auch ohne lebenslangen Verzicht können sich ihrer Erfahrung nach viele Patienten aus der gefährlichen Drogen-Sex-Spirale befreien.

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Kongress 2020 – digital