Medical Tribune
12. Dez. 2018Urologen und Kardiologen sind gefordert

Erektile Dysfunktion als Herzensangelegenheit verstehen

Der Titel der Fortbildungsveranstaltung liess aufhorchen «Der Penis – die Antenne zum Herzen». Am Seminar* von Medical Tribune beleuchteten Dr. Gianfranco Mattarelli, Facharzt für Urologie und operative Urologie, Liestal, und PD Dr. Thomas Dieterle, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie, Leitender Arzt, Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital Baselland, Liestal, die unterschiedlichen Facetten der erektilen Dysfunktion (ED).

Die Referenten machten deutlich, dass es sich dabei um weit mehr ein eine Lifestyle-Angelegenheit handelt. Denn die ED muss als Vorbote für kardiovaskuläre Erkrankungen und Prädiktor kardiovaskulärer Ereignisse verstanden und behandelt werden. Daher ist aktives Nachfragen unerlässlich. Dr. Mattarelli vermittelte eine der wesentlichen Botschaften: Bei der Erektion handelt es sich um ein neurovaskuläres Phänomen unter psychischer Kontrolle. Und dieser psychische Aspekt darf nicht vernachlässigt werden, wenn sich Männer mit erektiler Dysfunktion in der Praxis vorstellen – und schnell mal einen PDE-5-Hemmer verordnet bekommen möchten.  Von ED spricht man, «wenn über längere Zeit eine Unfähigkeit besteht, eine für die Penetration genügende und bis zur Ejakulation anhaltende Rigidität zu erreichen». Eine befriedigende Erektion basiert auf dem komplexen Zusammenspiel zahlreicher vaskulär-venöser, neurologischer und hormoneller Mechanismen in Verbindung mit einer nicht zu unterschätzenden psychogenen Komponente.

ED im Kontext des Alterungsprozesses

Erkrankungen der Blutgefässe und Diabetes mellitus sind für mehr als 50 % aller Fälle einer ED verantwortlich. Zur Häufigkeit erklärte Dr. Mattarelli, dass zwischen 39 % und 67 % aller Männer zwischen 40 und 70 Jahren an einer leichten, mittelschweren oder vollständigen ED leiden. Da Gedanken an und Freude am Sex oft bis ins hohe Alter erhalten bleiben, wird die ED als belastend wahrgenommen. In diesem Zusammenhang kam er auch auf das partielle Androgendefizit des alternden Mannes (PADAM) zu sprechen, von dem 20 % der Männer > 60 Jahre und 50 % der über 80-Jährigen betroffen sind. Zu den typischen Begleiterscheinungen zählen Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Stimmungsschwankungen bis hin zu einer Depression, Kraftlosigkeit, Muskelschwund, vermehrte viszerale Fettpolster, Gewichtszunahme und nachlassende Libido. Doch Dr. Mattarelli warnte davor, Kausalitäten zu konstruieren: Bei alternden Männern mit und ohne ED existieren keine relevanten Unterschiede in den Androgenspiegeln.

Psychische Faktoren oft unterschätzt

Der Urologe betonte die Bedeutung psychischer Faktoren im Zusammenhang mit einer ED. Registriert ein Betroffener Störungen seiner Sexualfunktion, kommt es zur kritischen Selbstbeobachtung, gefolgt von Versagensangst mit narzisstischem Trauma, und schliesslich entwickeln sich Vermeidungsstrategien, die in eine Abwärtsspirale münden können. Und dann läuft gar nichts mehr. In dieser Phase ist ein umfassendes Beratungsgespräch ebenso unverzichtbar wie das Partnergespräch. Denn im Alter bietet sich die Chance für eine entspanntere, erfüllende, weniger leistungs- und umgebungsabhängige Sexualität. Voraussetzung ist jedoch, dass Vorstellungen und Wünsche kommuniziert werden.

Für eine Sexualanamnese braucht es Zeit, Empathie und eine offene Gesprächsführung.  Folgende Aspekte sollten geklärt werden:

  • Art und Zeitpunkt des Auftretens
  • akut, chronisch, intermittierend
  • situationsabhängig
  • morgendliche, nächtliche, psychogene Erektionen
  • Ejakulation (antegrad, retrograd, präcox)
  • Orgasmus
  • Libido (Kopf, «Bauch»), Situation mit der Partnerin
  • Vorstellungen, Erwartungen

Nach einer körperlichen Untersuchung, und allenfalls weiteren Abklärungen erfolgt eine Sexualberatung. Erst dann sollten die therapeutischen Möglichkeiten erörtert werden.

Wenn es mit dem Sex nicht mehr klappt

Inzwischen stehen Tadalafil, Sildenafil, Vardenafil und Avanafil als PDE-5-Hemmer zur Verfügung, die sich in Hinblick auf Wirkdauer, Halbwertszeit und Nebenwirkungsprofil unterscheiden. Avanafil zeichnet sich durch eine geringe Nebenwirkungsrate und einen raschen Wirkeintritt aus, Tadalafil verfügt über eine lange Wirkdauer von bis zu 72 Stunden.

Bei bestehender koronarer Herzkrankheit (KHK) liegt die ED-Prävalenz bei 42–75 % und steigt bei Herzinsuffizienz-Patienten auf Raten von bis zu 84 % an. PD Dr. Dieterle ging auf die kardiologischen Aspekte bei Patienten mit ED ein und verwies auf die typischen Risikofaktoren. Insbesondere bei Patienten mit Diabetes, koronarer Herzkrankheit (KHK), Hyperlipidämie, metabolischem Syndrom und Hypertonie muss mit einer ED gerechnet werden.

Darüber hinaus ist die ED als früher Marker einer KHK von grosser Bedeutung und mit deren Schweregrad assoziiert: Die ED tritt in der Regel zwei bis fünf Jahre vor einer manifesten KHK auf. Inzwischen liess sich auch zeigen, dass die ED einen unabhängigen Prädiktor für kardiovaskuläre Ereignisse (Stroke, Myokardinfarkt, kardiovaskulärer Tod, Hospitalisation wegen Herzinsuffizienz) darstellt. Auf den Punkt gebracht: «endotheliale Dysfunktion = erektile Dysfunktion».

Sorgfältige Anamnese mit Blick auf Medikamente

Neben den bereits erwähnten psychosozialen Ursachen und Risikokonstellationen können auch Medikamente, neurologische und urologische Erkrankungen eine ED begünstigen. Alkoholabusus, Drogen und Rauchen sind weitere wichtige Störfaktoren der Sexualfunktion. Deshalb ist eine sorgfältige Anamnese mit Blick auf die Medikamentenliste unerlässlich, so PD Dr. Dieterle.

Diabetes und ED: Die Prävalenz der ED bei Diabetes wird mit ca. 75 % angegeben, und bei 12–30 % der Diabetiker ist Erektionsstörung das erste Symptom. Wenn ein Patient wegen ED in die Praxis kommt, sollte man immer auch nach einem Diabetes suchen.

KHK und ED: Man sollte das «Window of Opportunity» für den Nachweis einer subklinischen KHK bei Patienten nutzen, die sich wegen einer ED vorstellen:  Bei 22 % findet man eine positive Ergometrie, davon 90 % mit stenosierender Atherosklerose. Dann gilt es das kardiovaskuläre Risiko abzuklären und Risikoprofil zu verbessern, wobei Lifestyle-Interventionen und medikamentöse Therapien Hand in Hand gehen sollten.

Und schliesslich darf nicht vergessen werden, dass die sexuellen Aktivitäten ein gewisses Mass an kardiovaskulärer Belastbarkeit erfordern. Diese entspricht etwa der Belastung beim schnellen Treppensteigen. Ist ein Patient dazu nicht in der Lage, sollte er die sexuellen Aktivitäten aufschieben.  

* Sponsoren: Menarini und Menarini Dia­gnostics