Medical Tribune
9. Mai 2017

Vitamine in Superdosen sind Medikamente und keine unbedenklichen Supplemente!

Mit Ernährung hat die hoch dosierte Einnahme von Vitaminen nicht viel gemeinsam, viel eher schon mit einer pharmazeutischen Anwendung, schreibt Professor Dr. Paolo M. Suter, Klinik und Poliklinik für Innere Medizin, UniversitätsSpital Zürich. Das kann auch die Wirkung beeinträchtigen, denn in Supplementen liegen die Vitamine in der Regel in kristalliner Form vor und nicht proteingebunden wie in der Nahrung.
Abgesehen von Mangelzuständen sieht Prof. Suter keine evidenzbasierte Indikation für das «Superdosing» von Vitaminen und Spurenelementen. Da es sich um eine pharmakologische Dosierung handelt, müssten seiner Meinung nach die gleichen Wirksamkeitskriterien wie bei Arzneimitteln gelten – tatsächlich sind sie als «Nährstoffe» jedoch davon ausgenommen.

Teratogene Wirkung von Vitamin A wird unterschätzt

Prof. Suter fordert, auch in Mangelsituationen den Bedarf zunächst über die Ernährung zu decken, was mit wenigen Ausnahmen (z. B. Vitamin B12, Vitamin D) problemlos möglich ist. Die Realität sieht jedoch anders aus: Allein in den USA nimmt inzwischen mehr als die Hälfte der Bevölkerung Vitamine und Spurenelemente für die Gesundheit. Mit eventuell dem gegenteiligen Effekt, denn viele Nährstoffe haben ein erhebliches Toxizitätspotenzial, wie Prof. Suter am Beispiel von Vitamin A erläuterte. Zweifellos sinnvoll ist die Supplementierung in Entwicklungsländern, in denen der Vitamin-A-Mangel eine der wichtigsten Ursachen für Blindheit bei Kindern darstellt. Allerdings birgt der Einsatz von Vitamin A und seinen Derivaten in der Schwangerschaft auch Risiken. Schon bei einer relativ geringen Zufuhr kann es zu teratogenen Effekten kommen, so der Autor.

Mit zu viel Leber kann man sich umbringen

Aber nicht nur Supplemente bergen Risiken, auch alimentär zugeführtes Vita­min A kann gefährlich werden, wie das Beispiel des Schweizer Polarforschers Dr. Xavier Mertz zeigt. Der Wissenschaftler verstarb während einer Antarktisexpedition vermutlich an einer Vitamin-A-Intoxikation, ausgelöst durch den reichlichen Verzehr von Eisbärenleber. Auch heute noch sehen Ärzte Patienten mit akuter Vitamin-A-Intoxikation, Ursache ist meist der Genuss von Leber oder die Einnahme von Supplementen.
Zudem mehren sich Hinweise für einen Zusammenhang zwischen Vitamin A und Gicht, epidemiologische Studien ermittelten einen parallelen Anstieg von Serumharnsäure und Vitaminspiegeln.
Überdosen von Vitamin A sollen auch das Frakturrisiko steigern, weil sie die Wirkung von Vitamin D antagonisieren. Noch unklar ist, ob das als Provitamin A bekannte Beta-Carotin sicherer für die Knochen ist. Prof. Suter erscheint dies jedoch unwahrscheinlich. Studien haben gezeigt, dass Beta-Carotin-Supplemente in einer Dosis von 20–30 mg das Lungenkrebsrisiko von Rauchern steigern können. Für das mit der Nahrung zugeführte Beta-Carotin ist ein solcher Effekt nicht bekannt.
Ebenfalls beliebt ist die Einnahme von Vitamin C: Schon Ende der 1970er-Jahre postulierte der Nobelpreisträger Linus Pauling, dass es sich in hohen Dosen zur Krebs-Prophylaxe, eventuell auch zur Therapie eigne. Eine kürzlich publizierte Studie ermittelte tatsächlich eine therapeutische Wirkung bei bestimmten Kolonkarzinomen. Allerdings bewegen sich die untersuchten Dosisbereiche weit über den in der Ernährung üblichen, Analogieschlüsse für die orale Zufuhr sind also nicht gerechtfertigt, dämpft Prof. Suter voreilige Erwartungen.

Sowohl antioxidative als auch prooxidative Eigenschaften

Linus Pauling hatte also recht, aber er irrte sich im Mechanismus. Verantwortlich für die antikanzerogene Wirkung sind die prooxidativen Effekte des Vitamins C, nicht die antioxidativen, wie er dachte. Letztere sind jedoch an anderer Stelle für die Gesundheit wichtig: Studien deuten darauf hin, dass Antioxidanzien (vor allem Vitamin C und E) diverse kardiovaskuläre Risikofaktoren güns­tig beeinflussen. Die Antioxidationshypothese der Atherosklerose ist also eine gut fundierte Basis für die Gefässprotektion durch Anti­oxidanzien.

Möglichst zur natürlichen Variante greifen

Grundsätzlich sollte die Zufuhr von Mikronährstoffen möglichst über Lebensmittel erfolgen, die pharmakologische Anwendung mit Supplementen ist mit dem nicht vergleichbar, betont Prof. Suter in seinem Fazit. Er geht davon aus, dass die meisten Mikronährstoffe – unabhängig, ob aus der Nahrung oder supplementiert – positive und negative Effekte haben können.

Suter PM. Therapeutische Umschau 2016; 73: 673–678.