Medical Tribune
19. Okt. 2016ADHS bei Erwachsenen

Epidemiologie und Diagnose

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) gilt nicht mehr ausschliesslich als eine Erkrankung im Kindesalter, sondern wir wissen heute, dass die Symptome im Erwachsenenalter bestehen bleiben bzw. dass viele Diagnosen überhaupt erst im höheren Alter erfolgen. Professor Dr. Dominique Eich-Höchli, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich, erklärte am ADHD Advisory Board Meeting, wie häufig ADHS im Erwachsenenalter ist, und ging auch auf wesentliche Schritte und Methoden der Diagnostik ein.

Aktuelle Daten liefert eine Schweizer Studie, so Prof. Eich-Höchli: 5656 Schweizer Männer im durchschnit-tlichen Alter von 20 Jahren, die an einer repräsentativen Kohortenstudie zu Risikofaktoren bei Substanzmissbrauch teilnahmen, wurden auch hinsichtlich ADHS untersucht. Bei 4 % der Männer wurde ADHS diagnostiziert, etwas öfter bei älteren und/oder französischsprachigen Studienteilnehmern. Auffallend war, dass Söhne von Müttern mit höherem Bildungsrad und aus Familien mit Alkohol- oder psychiatrischen Problemen häufiger betroffen waren.1

Prof. Eich-Höchli betonte, dass die epidemiologischen Zahlen je nach diagnostischem Modell und Standard unterschiedlich sind.

So schwanken die Angaben zur Prävalenz von ADHS im Erwachsenenalter zwischen 2,9 % und 16,4 %. Eine relativ verlässliche Datenbasis liefert die WHO: Die weltweite ADHS-Prävalenz im Erwachsenenalter wurde 2007 in einer WHO-WMH*-Studie mit 3,4 % berechnet.2 Die Inzidenz war in Ländern mit geringem Einkommen mit z. B. 1,9 % in Mexiko kleiner als in Ländern mit höherem Einkommen, wie z. B. in Frankreich mit 7,3 % . ADHS trat auch häufiger in Kombination mit anderen DSM-IV-Erkrankungen auf.

Prof. Eich-Höchli erklärte, dass man davon ausgehen muss, dass die Prävalenz bei psychiatrisch erkrankten Patienten deutlich höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. In einer aktuellen Studie3 wurden 1986 nicht psychotische erwachsene ambulante Psychiatriepatienten beurteilt. Nach DSM-IV-TR hatten 15,5 % (95 % CI: 14,2–17,4 %) und nach DSM-V 17,4 % (95 % CI: 15,7–19,9 %) die Diagnose ADHS.
Schwierig erweist sich die retrospektive ADHS-Diagnostik bei der Fragestellung, ob ein erwachsener ADHS-Patient bereits im Kindesalter von der Krankheit betroffen war. Bei Patientenbefragungen sind die Kindheitserinnerungen unscharf und milde Krankheitsformen haben für die Betroffenen in der Erinnerung keinen Krankheitswert. Es kann auch sein, dass in der Kindheit von medizinischer Seite her wegen geringen Schweregrads der Erkrankung keine entsprechende Abklärung erfolgte.

Prof. Eich-Höchli präsentierte eine neuseeländische Kohortenstudie mit 1037 Teilnehmern, die 1972 und 1973 geboren waren, und über vier Dekaden beobachtet wurden. Wie erwartet lag die ADHS-Prävalenz in der Kindheit bei 6 % und, ebenfalls wie erwartet, im Erwachsenenalter bei 3 %. Völlig unerwartet für die Wissenschaftler war allerdings die Erkenntnis, dass es bei 90 % der im Erwachsenenalter diagnostizierten ADHS-Patienten in deren Kindheit keinen Hinweis auf ADHS gab. Dieses Ergebnis könnte bedeuten, dass ADHS im Erwachsenenalter kein Korrelat in der Kindheit haben muss. Wenn diese Tatsache in anderen Studien bestätigt wird,müsste das Klassifikationssystem für ADHS überarbeitet werden, schlussfolgern die Autoren.4

Aus anderen Studien ist bekannt, dass bei 60 % der bereits im Kindesalter Betroffenen eine Persistenz der Symptome besteht. Zu den Kernsymptomen im Erwachsenenalter gehören Aufmerksamkeitsstörung, motorische Hyperaktivität, Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, Affektkontrolle, Impulsivität und emotionale Übererregbarkeit (s. Tabelle).5

ADHS-Patienten äussern häufig subjektive Symptome wie Reizbarkeit, Ungeduld, Schlafstörungen als Folge körperlicher und geistiger Unruhe, Müdigkeit und Stress. Weiter geben sie an, mit dem Konsum von Drogen oder Alkohol die Symptome zu lindern. Prof. Eich-Höchli mahnte darauf zu achten, dass gut integrierte, sogenannte «high-functioning» Betroffene so sehr angepasst sein können, dass sie nur einen schwachen Ausprägungsgrad des ADHS zeigen.

Für die hausärztliche Praxis empfiehlt die Expertin DIVA 2.0, das Diagnostische Interview für ADHS bei Erwachsenen. Dieses strukturierte Interview basiert auf den DSM-IV-Kriterien und analysiert das aktuelle Verhalten und dasjenige in der Kindheit. Es sollte, wenn möglich, in Gegenwart eines Familienmitglieds durchgeführt werden und dauert ca. 60–90 Minuten. Unter (www.divacenter.eu) kann das PDF in der gewünschten Sprache heruntergeladen werden. Es steht in 16 Sprachen zur Verfügung. Zahlreiche Subtypen werden berücksichtigt.

Wender-Utah-Kriterien5 zur Diagnose von ADHS bei Erwachsenen

Kriterium

Symptome

Aufmerksamkeitsstörung

Unvermögen, Gesprächen zu folgen; Ablenkbarkeit; Schwierigkeiten, sich auf Schriftliches zu konzentrieren; Vergesslichkeit; häufiges Verlieren von Gegenständen

motorische Hyperaktivität

Gefühl innerer Unruhe; Unfähigkeit, sich zu entspannen oder sitzende Tätigkeit durchzuhalten; dysphorische Stimmungslage bei Inaktivität; stets «auf dem Sprung»

Affektlabilität

häufige und schnelle Stimmungswechsel innerhalb von Stunden oder Tagen, Unzufriedenheit, Langeweile

desorganisiertes Verhalten

unzureichende Planung und Organisation von Aktivitäten im Bereich Arbeit, Schule oder Haushalt; planloses Wechseln von einer Aufgabe zur nächsten, ohne dass eine Aufgabe tatsächlich abgeschlossen wurde; Probleme beim Zeitmanagement

Affektkontrolle

permanente Reizbarkeit; geringe Frustrationstoleranz, Wutausbrüche, erhöhte Reizbarkeit im Strassenverkehr

Impulsivität

Dazwischenreden; Ungeduld; kaum überdachte Handlungen; impulsive Geldausgaben

emotionale Übererregbarkeit

kein adäquater Umgang mit alltäglichen Stressoren; überschiessende oder ängstliche Reaktion, schnell «gestresst»

Quelle: nach Gross S, Philipsen A.6 Deutsche Bundesärztekammer (2014): Link

1 Estévez N et al. Prevalence of and associated factors for adult attention deficit hyperactivity disorder in young Swiss men. PLoS One. 2014 Feb 20; 9(2): e89298. doi: 10.1371/journal.pone.0089298. eCollection 2014.
2 Fayyad J et al. Cross-national prevalence and correlates of adult attention-deficit hyperactivity disorder. Br J Psychiatry 2007; 190: 402–409.
3 Deberdt W et al. Prevalence of ADHD in nonpsychotic adult psychiatric care (ADPSYC): a multinational cross-sectional study in Europe. BMC Psychiatry (2015); 15: 242.
4 Moffitt TE et al. Is adult ADHD a childhood-onset neurodevelopmental disorder? Evidence from a four-decade longitudinal cohort study. Am J Psychiatry. 2015; 172(10): 967–977.
5 Wender PH (1995). Attention-deficit hyperactivity disorder in adults. Oxford Univ Press, New York Oxford.
6 Gross S et al. ADHS im Erwachsenenalter: Diagnostik und Therapie. Der Nervenarzt 2015; 86(9): 1171–1180. doi:10.1007/s00115-015-4328-3.